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Noch heute Albträume

In Gießen erinnert Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) an den Mauerbau und das Erstaufnahmelager

Ministerpräsident Volker Bouffier bei der Veranstaltungsreihe „Wir leben Freiheit“ in Gießen Foto: Thomas Lohnes/Hessische Staatskanzlei

Aus Gießen Christoph Schmidt-Lunau

„Im Namen des Genossen Generalsekretärs“ begrüßt David Hannak den hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier, CDU. Der Berliner Schauspieler trägt die Uniform der DDR-Grenztruppen. Vier Sterne zieren seine Schulterklappen. Der Genosse Chef wolle mit Bouffier über einen Kredit verhandeln, sagt der Grenzer mit militärischem Gruß. Den bunt bemalten Trabbi vor der Tür hatte er zunächst gar nicht durchlassen wollen; schließlich sei der Arbeiter- und Bauernstaat kein Faschingsverein. „Alles Klassenfeinde!“, beschimpft er die BesucherInnen der Veranstaltung in der ehemaligen Erstaufnahme für Flüchtlinge in Gießen.

Es ist der Auftakt einer Veranstaltungsreihe, mit der die hessische Landesregierung an die Jahrestage von Bau und Fall der Berliner Mauer erinnert. In der Gießener Einrichtung waren zwischen 1946 und dem Mauerfall 900.000 Menschen aufgenommen worden, vor allem „Republikflüchtlinge“ aus der DDR. Seit 1993 dienen die Gebäude als zentrale Anlaufstelle für Flüchtlinge aus aller Welt. Mehr als eine Million Menschen wurden seitdem hier registriert. Geht es nach Ministerpräsident Bouffier, wird die Einrichtung eine Stätte nationalen Gedenkens. „Seit Bestehen der Bundesrepublik war das hier immer ein Ort der Zuflucht“, sagt Bouffier. „Ich hoffe, dass der Bundestag schon bald den Weg dafür frei mach“, sagt er der taz.

Vor der Tür geht es lustig zu. Die geladenen Zeitzeugen sind indes nicht zu Späßen aufgelegt. Im früheren Speisesaal der Einrichtung erinnern Schautafeln an ihre Lebensgeschichten. Jahre ihres Lebens verbrachten sie in Stasi-Knästen. Als Republikflüchtlinge galten sie als Kriminelle und wurden drangsaliert. Kinder, die in Jugendwerkhöfen kaserniert waren, beklagen den Verlust ihrer Kindheit. Vor den Gästen, darunter viele Jugendliche, berichten Jutta Fleck, geborene Gallus, und ihre beiden Töchter über ihre 1982 gescheiterte Flucht aus der DDR. Aus dem Knast freigekauft, kämpfte die Mutter im Westen sieben Jahre gegen die Trennung von ihren Kindern. Die Stasi hatte sie „in Obhut“ genommen. „Von der Mama weggerissen“ hätten sie die Betreuer, „kalt wie ein Eisberg“, erinnert sich Tochter Beate mehr als 30 Jahre später. Ihre Mutter erzählt von den Demütigungen, als sie bei ihrer Leibesvisitation nackt über Spiegelflächen gymnastische Übungen habe vorführen müssen. Im Westen angekommen hatte sie als die „Frau vom Checkpoint Charlie“ öffentlich auf ihr Schicksal aufmerksam gemacht. An der Mauer hatte sie selbst gemalte Plakate hochgehalten. Sie hatte sich an PolitikerInnen gewandt. Der Papst empfing sie zur Audienz. Die Kinder hatten schließlich den DDR-Unterhändler Wolfgang Vogel in seinem Privathaus „besucht“. Danach hatten die DDR-Offiziellen nachgegeben. Noch heute plagten sie Albträume, sagt die mittlerweile 72-jährige Mutter.

Heinz Dörr, 91 Jahre alt, war lange Leiter der Erstaufnahmeeinrichtung. Er erinnert sich noch heute lebhaft an die Übergabe freigekaufter DDR-Bürger. Bei Nacht und Nebel, irgendwo an der Transitstrecke, habe er die Menschen in Empfang genommen. Im Bus sei es zunächst totenstill gewesen, bis an der Grenze die Stasi-Aufpasser den Bus verlassen hätten. „Danach brachen die Emotionen aus“, sagt Dörr. Alltag seien diese Transporte für ihn gewesen, aber „niemals Routine“, zu bewegend die Schicksale der Menschen, die oft nach vielen gescheiterten Fluchtversuchen endlich ihr Ziel erreicht hätten. „Freiheit und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit“, das sei die Botschaft der Erinnerung der Opfer der DDR-Diktatur, sagte Ministerpräsident Bouffier. „Wir müssen dafür eintreten – mit Worten und mit Taten.“ Es sei eine der glücklichsten Stunden deutscher Geschichte, dass die Menschen damals ihre Freiheit erkämpft hätten, „ohne dass ein Schuss fiel“.

Die geladenen Zeitzeugen in Gießen sind indes nicht zu Späßen aufgelegt

In einer Gesprächsrunde mit SchülerInnen wird Bouffier gefragt, ob er seit dem Mord an seinem Parteifreund, dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, Angst habe. „Wer nicht mehr den Mut hat zu sagen, was ist, wird einen Teil seiner Freiheit verlieren“, antwortet Bouffier. Der mutmaßlich Todesschütze, ein bekennender Rechtsextremist, hatte den Mord mit einem Auftritt des Regierungspräsidenten just in Gießen begründet, bei dem Lübcke die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel verteidigt hatte. Bouffier nennt es in diesem Zusammenhang unerträglich, dass jeder im Netz Hass und Aufrufe zur Gewalt verbreiten könne. In einem Interview hatte er die AfD für die „Enthemmung“ im Netz verantwortlich gemacht.

Diese Partei habe ein Klima geschaffen, in dem Gewalt als Lösung denkbar werde, so Bouffier. Es sei an jedem Einzelnen, auch im Netz Position zu beziehen, appelliert Bouffier in Gießen an die Jugendlichen. Die hessische Landesregierung verhandelt derzeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, um in Kooperation mit ihnen den Kampf gegen Gewalt und Hetze im Netz zu verschärfen. „Was ich mir wünsche, ist die Überwindung der Gleichgültigkeit“, gibt Bouffier mit auf den Weg. „Der Kampf gegen Hass, Hetze und Gewaltaufrufe ist nicht allein Aufgabe von Polizei und Justiz.“

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