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Dem Wolf auf der Spur

Fährten erzählen die Geschichten von Tieren.Die des Wolfs ist nicht leicht zu lesen und wird oft missverstanden. Eine Spurensuche in Brandenburg

Von Ulrike Fokken

Eine Düne in Brandenburg, ringsum Kiefern, Birken, Heide, Ginster. Zarte Rehhufe drücken sich im gelben Sand ab, große und kleine Wildschweine sind kreuz und quer über diesen Naturspielplatz gelaufen und haben kastenförmige Abdrücke in den Sand gestempelt. Ein Fuchs ist über die Düne geschnürt, seine ovalen Fußabdrücke ziehen sich wie auf eine Schnur gereiht bis über die nächste Hügelkuppe. Dann sind da noch die Abdrücke eines hundeartigen Tieres, jedes Trittsiegel neun, zehn Zentimeter lang, mit vier Zehenballen, vier Krallen und einem Handballen, das Trittsiegel eher länglich und mit einer gewissen Zielstrebigkeit in den Sand gesetzt.

„Hunde- und Wolfsspuren voneinander zu unterscheiden ist schwierig, weil es viele Hunderassen gibt, die sehr ähnliche Füße wie Wölfe haben“, sagt Stefanie Argow, professionelle Fährtenleserin in Berlin. Argow bringt Biologiestudent*innen auf Exkursionen in der Lausitz und der Slowakei das Spurenlesen bei, arbeitet für die Uni Potsdam und das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung. „Sicher bestimmt werden können Hund- und Wolfstrittsiegel nur anhand von sehr vielen einzelnen Merkmalen“, sagt sie. Das fängt bei der Größe des einzelnen Trittsiegels an, wie Fährtenleser einen Fußabdruck nennen.

Wölfe haben größere Vorderfüße als Hinterfüße, weshalb erst mal die Vorderpfoten von den Hinterpfoten unterschieden werden müssen. Hunde haben je nach Rasse manchmal ungleich große Pfoten, manchmal sind die Hinterfüße größer als die vorderen. Die Zehenballen von Wölfen sind symmetrisch längs oval und gerade nach vorne in Laufrichtung ausgerichtet, auch die Krallen weisen nach vorne. Sie geben Wolfsspuren etwas Zielstrebiges, Absichtsvolles. Die Krallen von Hunden biegen vom Fußabdruck meistens in unterschiedliche Richtungen ab.

Wolfsrisse

153 Übergriffe auf Nutztiere mit insgesamt 401 getöteten Tieren wurden dem Brandenburger Landesamt für Umwelt (LfU) 2018 gemeldet, bei denen der Wolf als Verursacher nachgewiesen oder nicht ausgeschlossen werden konnte. Im Jahr 2019 wurden bislang (Stand 6. 8.) 85 Übergriffe mit insgesamt 225 getöteten Tieren gemeldet.

779.463,47 Euro aus Landesmitteln wurden laut LfU im Jahr 2018 zur Wolfsprävention zur Verfügung gestellt. Im ersten Halb­jahr 2019 wurden 60 Anträge mit 412.000,00 Euro gefördert, weitere 37 Anträge sind bereits bewilligt. (sah)

In jedem Detail des Fußabdrucks zeigt sich die Lebensweise des Wolfs. Wölfe leben energieeffizient, haben keine überschüssige Kraft wie gut gefütterte Hunde. Die können es sich leisten, im Wald zu stromern und zu tollen, denn ein Mensch füllt ihren Futternapf. Wölfe jagen jede Mahlzeit. Sie müssen ihre Energie gezielt dafür einsetzen, ein Reh, ein Wildschwein oder auch mal einen Hasen zu erlegen. Zudem brauchen sie Kraft, um die Grenzen ihres Reviers abzulaufen.

In Deutschland sind die Wolfsterritorien 250 bis 300 Quadratkilometer groß. Wer sich angucken will, wie groß das ist, schaue auf Malta, das 316 Quadratkilometer groß ist. Mit Urin und 20 Zentimeter langen, gurkendicken Kotwürsten markieren Wölfe ihr Territorium, um andere Wölfe schon am Rand zu warnen: Hier leben wir. Wölfe vermeiden Kämpfe, denn jede Auseinandersetzung ist gefährlich, kann verletzen und kostet Energie.

„Die meisten Infos bekommt man aus der ganzen Fährte, also aus der Aneinanderreihung von Trittsiegeln“, sagt Stefanie Argow. „Wölfe laufen auf langer Strecke oft ganz gerade im geschnürten Trab, bedacht und ohne Ablenkung“, sagt sie. „Hunde sind eher sorglos unterwegs, gucken mal hier, mal da und ändern oft ihre Gangart.“

Wölfe leben energieeffizient, haben keine überschüssige Kraft wie gut gefütterte Hunde

Fährten erzählen die Geschichten, die Tiere mit einzelnen Zeichen setzen. Am Fuß der Sanddüne sind kleine Wildschweine, die Frischlinge, im Kreis gelaufen, immer herum und nochmal herum, heidewitzka, dunklerer Sand spritzte bis an den Heiderand. Einige Meter daneben stehen die mächtigen Abdrücke eines großen Wildschweins, wahrscheinlich der Muttersau, die ihren Jungen beim Spielen zusieht.

Und der Canide, der Hundeartige, auf der Düne? „Wölfe setzen den Fuß meist sehr sauber auf, das Trittsiegel wirkt symmetrisch und sauber, ohne viel Auswurf oder Einbrüchen an den Rändern des Trittsiegels“, sagt Argow, die auch noch detailliertere Kriterien zu den Fußspuren von Wölfen und den ähnlich großen Schäferhunden, Huskys und anderen großen Hunden im Schlepptau des Menschen kennt. Nicht nur ihre Fußabdrücke werden oft für Wolfsspuren gehalten. Auch die meisten vermeintlichen Wolfssichtungen in Gärten und menschlichen Siedlungen sind Hunde. Und Hunde reißen auch weiterhin mehr Schafe und andere Nutztiere als Wölfe.

38 Wolfsrudel leben in Brandenburg, außerdem laufen wahrscheinlich ein paar Junggesellenwölfe herum. Zudem finden sich Paare und besetzen ein Revier. Ende April, Anfang Mai gebiert die Wolfsfähe meist vier bis sechs Welpen, die von ihr und dem Rüden groß gezogen werden. Haben sie schon im Vorjahr Nachwuchs gehabt, leben meist einige der Jungwölfe bei ihnen und helfen bei der Aufzucht der jüngeren Geschwister. Die Familie bildet das Rudel. Mit sieben, acht Monaten sind die jungen Wölfe so groß wie die Alten. Fährtenleser können ihre Fußspuren dann nur am Verhalten von denen der Eltern und älterer Geschwister unterscheiden.

„Wölfe sind Menschen in sozialer Hinsicht am ähnlichsten“, sagt Kurt Kotrschal, Leiter der Konrad Lorenz-Forschungsstelle in Österreich und Verhaltensbiologe am Wolfsforschungszentrum in Ernstbrunn. „Wölfe und Menschen sind soziale Laufjäger, sie kooperieren auf der Jagd und beim Niedermachen anderer an ihren Grenzen“, sagt Kotrschal in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk. Wölfe und Menschen haben nebeneinander und miteinander im selben Naturraum gelebt. Kotrschal vermutet, dass sie sich vor rund 35.000 Jahren zusammengetan haben, um effizienter jagen zu können. Vor 17.000 bis 10.000 Jahren haben Menschen dann Hunde zum Jagen, Kämpfen und Hüten ihrer Herden selektiert. Als sich die Menschen mit Schafen, Ziegen oder Rindern an einem Ort niederließen, wurden die alten Jagdfreunde zu Feinden: Sie bedrohten den Besitz.

„Prinzipiell sind Wölfe nicht gefährlich, sie sind einfach neugierig“, sagt Verhaltensbiologe Kotrschal. Die Erfahrungen in Deutschland der vergangenen 20 Jahre belegten, dass Wölfe auch auf engstem Raum Menschen aus dem Weg gingen. Auch wenn ein Wolf am Wegrand steht oder über einen Spielplatz lauf, bedeutet das nur, dass da eben mal ein Wolf längs lief. Menschen sollten ihre Territorien markieren, mit elektrischen Zäunen Schafe, Ziegen, eingesperrte Damhirsche sichern. „Man sollte Wölfen immer vermitteln, dass Menschen nicht so nett sind“, sagt Kotrschal.

Wer in Brandenburg die Nachbarn im Wald kennenlernen will, kniet sich auf den Boden und in die Biologie. FährtenleserInnen kommen keinen Schritt weiter, wenn sie zu schnell urteilen. Oder Rotkäppchen lesen.

Ein paar Hundert Meter von der Düne im brandenburgischen Wolfsland entfernt liegt ein Haufen braun-schwarzer Masse, gehalten von Borsten und Haaren, dabei ein beigefarbener Huf, nicht größer als ein Daumen. Es gab Frischling. Die sind eine leichtere Beute für einen Wolf als wehrhafte ausgewachsene Wildschweine. Sie stehen daher an zweiter Stelle auf dem Speiseplan der Lausitzer Wölfe, haben Wissenschaftler vom Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz festgestellt. An erster stehen Rehe, wie die Wissenschaftler aus 6.581 Wolfslosungen zwischen 2001 und 2016 analysierten. Rund 53 Prozent der Biomasse im Wolfskot war Reh, 18 Prozent stammen von Wildschweinen, 15 Prozent von Rothirschen. Die Wissenschaftler fanden noch Hasen, Biber, Mäuse, Früchte und ein Prozent Biomasse von Nutztieren. Kein bisschen Rotkäppchen.

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