: Um Mädchen zu beeindrucken
NOBELPREISKANDIDAT Der israelische Schriftsteller Amos Oz liest an der Humboldt-Uni aus seinen Romanen und nimmt Stellung zum Nahost-Friedensprozess
Ein älterer Herr bleibt vor dem Eingang zur Humboldt-Universität stehen und fragt eine ältere Dame mit rotem Hut, die in der Schlange steht, was denn hier los sei. Sie lacht: „Was hier los ist? Gleich kommt Amos Oz!“
Der israelische Schriftsteller wird seit Jahren für den Literaturnobelpreis gehandelt. Mit der Dame im roten Hut strömen 500 weitere Zuschauer in den vollen Kinosaal der HU. Oz eröffnet das Wintersemester der „Mosse Lectures“, die seit 1997 vom Institut für deutsche Literatur veranstaltet werden und nach dem Historiker George L. Mosse benannt sind. Das Motto der aktuellen Vorlesungsreihe lautet „Literarischer Atlas: Dichter und ihre Ortschaften“.
In den nächsten Wochen wird unter anderem Orhan Pamuk aus der Türkei Auskunft geben. Auf der Bühne sitzen Oz und die Schauspielerin Nina Herting. Oz hat die kraftvolle Stimme eines Onkels, den die Kinder lieben, weil er so gute Geschichten erzählt. Er führt kurz in das Werk ein, aus dem er lesen möchte – zunächst ist es sein großer, autobiografischer Roman „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“. Dann trägt er Textpassagen vor, abwechselnd auf Englisch und Hebräisch. Glaubt das deutsche Publikum, einzelne Wörter aus dem hebräischen Vortrag zu kennen, kichert es leise, zum Beispiel bei Jogurt, Ben Gurion und Shalom. Oz’ jüngstes Werk heißt „Geschichten aus Tel Ilan“, ist in diesem Jahr erschienen und handelt von einem frei erfundenen israelischen Dorf und seinen Bewohnern.
Es gehe ihm um die Idee eines kleinen Dorfes als Mittelpunkt des Universums, sagt Oz. Und um traurige Familien, die dort wohnen. „Aber bitte: Interpretieren Sie hier keine Allegorie auf Israel hinein“, ruft er ins Publikum.
Die Schauspielerin Nina Herting trägt die deutsche Übersetzung vor und klingt viel ernster als Oz, dramatischer, manchmal sogar komischer, wenn sie besonders ironische, amüsante Passagen vorliest. Oz beschäftigt sich währenddessen mit seinem Publikum. „Wenn ich gerade nichts zu tun habe, liebe ich es, Leute zu beobachten. Ich überlege mir dann Geschichten zu den Menschen“, erklärt er. Während seines Vortrags schließt Herting die Augen und stützt ihr Gesicht auf ihre linke Handfläche. Sie wirkt konzentriert, als wäre Oz’ Sprachrhythmus etwas, das man aufsaugen könne, wenn man sich nur genug darum bemühe.
Seine Fans nehmen Amos Oz auch als Friedensaktivisten wahr. „Wie sehen Sie die Chancen für Obama, die Zwei-Staaten-Lösung zwischen Israel und den Palästinensern zu implementieren?“, fragt einer. 1977 war Oz Mitbegründer der Friedensorganisation „Peace Now“, die heute sehr einflussreich ist. Er sei kein Prophet, sagt er, doch sei er sich sicher, dass es einmal zwei unabhängige Staaten Israel und Palästina geben wird, mit zwei Hauptstädten, beide in Jerusalem. Auf die meisten Fragen antwortet Oz mit bilderreichen Anekdoten, erzählt Geschichten, die mit Pointen enden, über die das Publikum lachen kann. Er bleibt selten theoretisch. Als er gefragt wird, warum er früher, als er noch im Kibbuz lebte, Kurzgeschichten schrieb, antwortet er: „Ich hatte einfach keine Zeit für längere Texte. Ich bekam pro Woche nur einen Tag frei.“ Zum Ende des Abends fragt Universitätspräsident Christoph Markschies, ob das Schreiben anfangs eine Art Flucht aus dem Kibbuz-Alltag bedeutete. Oz verneint und antwortet, das sei eher die Möglichkeit gewesen, Mädchen zu beeindrucken. „Sehen Sie, das war meine einzige Chance.“ Die ältere Dame mit dem rotem Hut lächelt.
SASCHA CHAIMOWICZ