: Inszenierung der Wut
PROTEST Stefan Boness fotografiert seit vielen Jahren Demonstrationen. Er beobachtet, wie sie immer individueller werden
■ Die Demos: Im Vergleich zu den Vorjahren gab es 2011 mehr Protestveranstaltungen mit mehr Teilnehmern: Stuttgart 21, Occupy, Proteste gegen Fluglärm und Flughafenausbau. Allerdings ist das kein Allzeithoch, denn am meisten wurde bisher in den Neunzigerjahren demonstriert, erklärt der Bewegungsforscher Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Rucht hat Zeitungsartikel über Demonstrationen in der Frankfurter Rundschau und der Süddeutschen Zeitung aus mehr als fünf Jahrzehnten ausgewertet.
■ Die Milieus: Die Demonstrationsthemen wurden in den letzten Jahren differenzierter, die Interessengruppen spezifischer. So demonstriert zum Beispiel nicht mehr nur der Bauernverband. Auch die Allgäuer Milchbauern, die sich selbst organisieren, gehen auf die Straße. Das spiegelt allgemeine gesellschaftliche Veränderungen wider, sagt Rucht: Die großen, auf sozialen Milieus beruhenden Lager wie Arbeiter, Kleinbürger oder Landwirte lösen sich auf. Menschen sind nicht mehr ihr ganzes Leben nur einem Milieu zugehörig, sondern je nach Alter und Interessen vielen verschiedenen.
PROTOKOLL LISA GOLDMANN
Früher wurden Demonstrationen häufiger von Organisationen, Parteien oder Gewerkschaften geleitet, es gab einheitliche Plakate und Parolen. Die gibt es zwar immer noch, aber ich habe den Eindruck, dass inzwischen mehr Menschen ganz unabhängig auf Demos gehen, um ihrer persönlichen Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Sie entwickeln eigene Ideen, basteln sich zu Hause eigene Plakate. Manche Sprüche haben popkulturelle Bezüge, manche reflektieren die Situation des Protests, wie zum Beispiel das Schild „Wenn wir heute nur ein paar Leute mehr wären …“, das ich 2010 auf einer Demo gegen das Sparpaket der Regierung fotografiert habe. Das gilt vor allem für neuere Bewegungen wie Occupy oder Anti-Acta. Das Themenspektrum ist auch viel größer geworden.
Diese Veränderung versuche ich in meinen Bildern festzuhalten. Ich zeige Demonstrationen nicht als Massenereignis, sondern greife mir einzelne Protestler und ihre individuellen Plakate heraus. Meistens fotografiere ich mit offener Blende, es ist also nur eine Ebene scharf erkennbar, alles davor und dahinter verschwimmt.
Einen Demonstranten habe ich im Abstand von zwei Jahren auf zwei Hartz-IV-Demos getroffen. Bei der zweiten trug er ein Schild um den Hals mit der Aufschrift „Hartz IV macht arm und krank!“, und ich habe ihm angesehen, dass das stimmt.
Mir fällt auch auf, dass sich die Menschen häufiger selbst inszenieren, sie filmen sich gegenseitig mit ihren Plakaten und stellen die Videos ins Internet. So erreichen sie ein zusätzliches Publikum. Viele wollen ganz bewusst in die Medien und begegnen mir als Fotografen dementsprechend. Das gilt nicht nur für junge Menschen, auch die ältere Dame im Pelzmantel mit dem Pro-Guttenberg-Plakat hat gerne für mich posiert.
Die Demonstrationen gegen das Urheberrechtsabkommen Acta haben mich besonders fasziniert, das war wirklich Wahnsinn. So schnell kamen so viele Menschen zusammen mit wirklich tollen Ausdrucksformen wie den zugeklebten Mündern. Die Wirkung war enorm: Innerhalb von zwei, drei Demos wurde Acta beerdigt. Ich habe noch nie erlebt, dass eine Bewegung in so kurzer Zeit ihr Ziel erreicht.
Die gesteigerte Inszenierung muss man aber auch kritisch sehen. Oft finden Aktionen nur noch für die Medien statt. In den Pressemitteilungen heißt es dann immer: „Eignet sich besonders gut für die Bildberichterstattung.“ Meist inszeniert das eine Partei oder eine Initiative wie Campact, die hochgradig durchorganisiert und professionell ist. Die bauen dann zum Beispiel Figuren vor dem Kanzleramt auf, es gibt einen Fototermin und nach einer Stunde wird alles wieder abgebaut.
Finanzkräftige Gruppen wie die Wirtschaftslobby „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ bezahlen Demonstranten sogar. Ich habe mal bei einer Aktion nachgefragt und die Teilnehmer meinten, sie würden Geld bekommen, dürften aber nicht sagen, wie viel, weil ihnen das vertraglich untersagt wurde. Denen sind die Inhalte, glaube ich, ziemlich egal. Es ist die Eventisierung der Protestkundgebung. Die Presse geht natürlich trotzdem immer wieder hin. Wenn einer berichtet, müssen alle. Das ist ein fieser Mechanismus.
■ Stefan Boness, 49, freier Fotograf, trifft einige Menschen seit Jahren auf fast jeder Demo wieder. Manchmal grüßen sie ihn