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Archiv-Artikel

Die Erfindung der Vergangenheit

VINTAGE Secondhand, Mottenkugeln, Flecken? Von wegen: Alte Klamotten sind die frischeste Mode

Vintagekleidung ist schon da und muss nicht extra in Bangladesch angefertigt werden

VON NATALIE STÖTERAU

Fashion is dead“, sagt Keni Valenti. Mode sei Mitte der neunziger Jahre zu Grabe getragen worden. Seither verweise Mode auf Vergangenes. Vintage ist Referenz – und Keni Valenti hat einen eigenen Laden dafür in Miami. Das New York Magazine adelte ihn sogar als „King of Vintage“. Der Begriff steht bei ihm für höchste Vollendung. Spätestens seit in diesem Jahrtausend Hollywoodstars wie Julia Roberts oder Jennifer Lopez Haute Couture aus vergangenen Zeiten auf dem roten Teppich trugen und ihre Kleider garantierte Unikate waren, ist Vintage als Distinktionsform ein Begriff.

Jennifer Lopez kauft ihre Kleider bei Keni Valenti, ebenso wie Naomi Campell, Björk, Sigourney Weaver oder Rapper wie P. Diddy und Kanye West. Sie kaufen „Vintage Couture“. An diesen Stücken saßen Schneider mindestens 3.000 Stunden. Keni Valenti achtet darauf, dass die Herkunft seiner Kleidungsstücke gut dokumentiert ist, etwa in Modezeitschriften wie der Vogue.

Wenn also Stiefel von Chanel nur 150 statt 1.500 Euro kosten, dann ist das nicht billig, sondern Vintage. Auf den Straßen und in den Fußgängerzonen sieht man allenthalben Menschen mit Nerd-Brillen und Röhrenhosen, die an die Achtziger erinnern. Moon- oder Stonewashed Jeans, weite Schlabberpullis mit Schulterpolstern, zu engen Leggings, bunte Strümpfe in hochhackigen Pumps und Puffhosen zu pastellfarbenen oversized Blazern. Das alles gibt es längst bei H&M und anderen billigen Modelabels – Ausbeutung und Umweltschweinerei inclusive. Das muss jedoch nicht sein: Vintage bedeutet, originale Kleidung aus vergangenen Jahrzehnten zu erwerben. Sie ist schon da und muss nicht extra in Bangladesch angefertigt werden.

„Ich kaufe gerne Vintage, da ich weiß, dass dieses Kleidungsstück doppelt genutzt wurde und kein Wegwerfprodukt ist“, sagt Tanya Bednar. Sie ist eine Weltreisende in Sachen Mode. Die Stücke, die sie in ihrem Designer-Vintage-Store „Das neue Schwarz“ in Berlin-Mitte anbietet, hat sie auf allen Kontinenten gesucht und gefunden – zum Beispiel die Circle Bag von ThreeasFour, die legendäre Handtasche, die hier an der Wand hängt. Global ist auch ihr Bewusstsein: Ihr und ihrer Kundschaft ist der Gedanke, Nachhaltigkeit und Mode kombinieren zu können, wichtig.

Doch vor allem geht es darum, nicht so auszusehen wie alle anderen. Und das wollen auch Nadine Lohof und Maria Siegismund nicht, die den Vintage-Store XVII-dix-sept in Berlin-Mitte betreiben. Beide sind Mitte zwanzig: „Je jünger man ist, desto eher tendiert man zu älteren Sachen, die noch einen Wert haben. Alles ist so wahnsinnig schnelllebig. Ich sehne mich einfach nach Sachen von früher, sie strahlen eine Stabilität aus, die man heute nicht mehr hat.“ Geht es also um Eskapismus? Um die Sehnsucht nach einem Früher, in dem angeblich alles besser war?

Josefine Sporer vom Hamburger „Trendbüro“ – einem „Beratungsunternehmen für gesellschaftlichen Wandel“ – sagt: „Alles, was verschwindet, gewinnt an Wert. Die Sehnsucht nach der Vergangenheit ist eine Gegenbewegung zu den Megatrends Digitalisierung, Globalisierung und Flexibilisierung.“ Eine ganze Generation sehne sich nach „Entschleunigung und Verbindlichkeit“.

Nadine Lohof von XVII-dix-sept sucht zwischen bunten Mohair-Strickjacken und Blousons mit Schulterpolstern nach Erklärungen. Mitunter ist es ganz schlicht: „Die Stoffe fühlen sich einfach besser an.“ Ausgefallene Knöpfe, aufwendige Stickereien und andere liebevolle Details – das alles ist bei einer Produktion unter Hochdruck so nicht möglich.

Doch auch wer Vintage will, hat beim Einkaufen ganz schön zu tun. Vintageliebhaber unterscheiden sich von Schnäppchenjägern im Secondhandladen. Sie sind „neugierige ExpertInnen, die sich in verschiedenen Epochen und Stilrichtungen von Kleidung auskennen und interessiert am historischen Kontext ihrer Garderobe sind“. So steht es im zentralen Text zu diesem Thema: Im Standardaufsatz „Hooked on Vintage“ aus der amerikanischen Fachzeitschrift Fashion Theory, verfasst von den Professorinnen Marilyn DeLong, Barbara Heinemann und Kathryn Reiley. Ob man sich für ein Jahrzehnt entscheidet oder Stile verschiedener Epochen kombiniert, ist dabei Geschmacksache. Sich vintage zu kleiden bedeute, aus vielen Quellen zu schöpfen, aber nicht zwangsläufig, unschöpferisch zu sein. Denn die genaue Kenntnis der Epoche ist entscheidend. Zudem sei Vintage ein Ausweg aus textiler Massenproduktion. Vintagekleidung sei „eine brauchbare Alternative, Individualität auszudrücken“. Verbindliche Regeln existieren im Bereich der Mode längst nicht mehr – wer zum Beispiel gegenwärtig ein Korsett tragen möchte, kann das selbstverständlich tun.

Mimi Grese hat sich auf historische Textilien spezialisiert. Seit zehn Jahren verkauft sie in Berlin-Schöneberg Kleider aus den 1920er bis 1950er Jahren, die ausschließlich in Deutschland produziert und getragen wurden. Die gelernte Schneiderin möchte mit ihrer Auswahl eine Art Volksgut weitergeben: „Das ist hier alles ein wenig konservativer. Viele haben diese amerikanische Vorstellung von Vintage, aber bei uns ist es etwas hochgeschlossener. Frau ist Frau, Mann ist Mann – ich finde es immer wieder schön, wenn junge Leute hier reinkommen und einen Anzug oder ein Kleid anprobieren. Sie merken dann, dass solche Kleidung einer anderen Haltung bedarf.“

Es geht ihr um Geschichte, die anhand von Schnitten und Stoffen der jeweiligen Zeit anschaulich wird. Mimi Grese beschäftigt sogar eine Gewandmeisterin, die Schnittmuster für historische Stoffe oder Kostüme herstellen kann. Auch Kate Winslet hat sich hier bei Dreharbeiten zu „Der Vorleser“ schon zwischen Leinen und Plauener Spitze verloren. Zwischen all den Stoffen, Kleidern und Schals, die in alten Schränken drapiert sind.

Bei Mimi Grese kommen inzwischen sogar Schüler aus Kunst- und Geschichtskursen vorbei, um sich echte historische Kleidung anzusehen. Mimi nutzt dann die Gelegenheit, zu vermitteln, dass Kleidung eben auch Kulturgut ist und es qualitative Unterscheide zur Garderobe der großen Modeketten gibt, trotzdem, sagt Mimi, „finde ich das gar nicht so schlecht, wenn so mancher Trend den Leuten durch H&M nahegebracht wird, die werden neugierig und kommen dann in Vintageläden oder Kleiderantiquariate.“

Die meisten der großen Designer seien tot, sagt Keni Valenti. Und setzt hinzu: „Warum sollten wir also nicht die Vergangenheit neu erfinden?“