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Die Zeichentrick-Psychose

Wilde, nicht durchweg gelungene Mischung aus Anime und Jugenddrama, Superheldinnen- und Krankheitsgeschichte: Ziska Riemanns zweiter, in Hamburg gedrehter Spielfilm „Electric Girl“ läuft an

Von Wilfried Hippen

So wie Kimiko wäre Mia selbst gern. Dabei scheint die 23-Jährige ihr Leben auf den ersten Blick ganz gut zu meistern. Zuletzt hat sie sogar einen Job als Synchronsprecherin ergattert: Für zehn Staffeln einer japanischen Anime-Serie soll sie einer Superheldin die Stimme geben. Mit einigen Ausschnitten aus dieser Zeichentrickserie beginnt der Film „Electric Girl“, der heute in diversen Kinos anläuft; wenn die gezeichnete Kimiko Deutsch spricht, sieht man in einem Gegenschnitt, wie Mia (Victoria Schulz) die entsprechende Sequenz einspricht.

Es ist vergleichsweise bekannt, dass Schauspieler*innen sich manchmal derart in ihre Rollen hineinsteigern, dass sie in Schwierigkeiten geraten, wieder zu sich selbst zu finden, wenn die Kamera nicht mehr läuft. Ob diese Gefahren aber auch im Synchronstudio bestehen? In Ziska Riemanns Film nun passiert eben das: Mia verwandelt sich allmählich in Kimiko – innerlich und äußerlich. Statt Tokio glaubt sie Hamburg retten zu müssen. Und weil elektromagnetische Wellen für sie Teufelswerk sind, besteht ihre erste Heldinnentat darin, in ihrem Haus die Sicherungen herauszudrehen.

Dabei bleibt es nicht: In einer gelben Federjacke und mit blauer Perücke auf dem Kopf sieht Mia zunehmend aus wie eine Superheldin. Vielleicht noch wichtiger: In ihrer Umgebung beginnen Menschen asynchron zu sprechen, Lippenbewegungen und Gesagtes stimmen nicht mehr überein.

Für ihre Mitmenschen indes wirkt es zunehmend, als verliere sich Mia in Wahnvorstellungen. Weil der Film zum größten Teil aus ihrer Perspektive erzählt wird, bringt das die Zuschauer*innen in eine ambivalente Position: Nach einer Lesart verliert Mia immer mehr den Kontakt zur Realität, und der Film macht deutlich wie schädlich und gefährlich Mias Verhalten ist. Oder ist sie doch eine Superheldin? Immerhin hindert sie ja in einer U-Bahn-Station einen Mann daran, sich vor einen fahrenden Zug zu werfen. Und sie absolviert selbst ein paar Sprünge – von einem Balkon hinab, aber auch von der Straße auf ein Dach –, die unter realen Bedingungen unmöglich sind, mit Filmtricks gezaubert aber schon wieder banal.

„Electric Girl“ bleibt unentschieden: So wie animierte Sequenzen neben Realfilm stehen, bleibt unklar: Ist dies ein fantastisches Abenteuer – oder einfach ein Krankheitsverlauf?

Eine ähnliche Geschichte hat Regisseurin Ziska Riemann schon mal 2011 erzählt: in ihrem Langfilmdebüt „Lollipop Monster“. Darin flüchten sich zwei Freundinnen in eine Traumwelt, in der sie ihre Sexualität und Wut ausleben können. So originell, furios und tabulos hatte der deutsche Film zuvor nie von pubertierenden jungen Frauen erzählt. „Electric Girl“ wirkt im Vergleich dazu blasser. Das mag viel zu tun haben mit dem Charisma von Jella Haase, die damals eine Hauptrolle spielte und dafür völlig zu Recht mit dem Bayrischen Filmpreis als Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet wurde. Victoria Schulz spielt dagegen das „Electric Girl“ distanziert und kühl – dem Titel angemessen? Manchmal erinnert sie an die junge Franka Potente („Lola rennt“), aber in anderen Szenen wirkt sie auch schon mal steif und unfreiwillig komisch.

Auch ist die Fantasiewelt nicht einfallsreich, wild und gefährlich genug ausgemalt, um wirklich interessant zu sein. Die Anime-Sequenzen – entstanden nicht in Japan, sondern in Belgien – kommen billig produziert und einfallslos daher, die Heldin derart eindimensional: kaum nachzuvollziehen, warum Mira sich in so eine Figur verwandeln will. Das überrascht, denn die Regisseurin versteht selbst etwas vom Illustrieren und Comiczeichnen: Sie hat bei Gerhard Seyfried gelernt.

Statt Tokio glaubt Mia Hamburg retten zu müssen. Und weil elektromagnetische Wellen für sie Teufelswerk sind, dreht sie als erste Heldinnentat die Sicherungen heraus

Interessanter ist „Electric Girl“, folgt man der anderen möglichen Lesart: als Geschichte eines Menschen, der mehr und mehr abdriftet in eine Psychose. Dann nämlich erzählt Riemann subtil und mit gutem Blick aufs Detail: Einmal lässt Mia achtlos ihre Turnschuhe im Wasser versinken und läuft dann barfuß durch die Stadt. Auch die Art, wie die anderen sie ansehen, macht deutlich: Da scheint sich jemand verrannt zuhaben.

Während sie Freund*innen und Kolleg*innen also immer fremder wird, beginnt sie eine Freundschaft mit einem älteren, heruntergekommenen Nachbarn – in dem sie ihren Anime-Mithelden zu erkennen glaubt. Gespielt von Hans Jochen Wagner – scheu und phlegmatisch, aber auch mit einem wachen, melancholischen Blick –, ist dieser Nachbar im Grunde der Sympathieträger des Films. Und wie er, von Mia aus seiner Wohnung entführt, plötzlich im Unterhemd in einem Zimmer voller Frauen steht: zugleich die skurrilste und anrührendste Szene des Films.

Gedreht worden ist „Electric Girl“ im Jahr 2017, Premiere war dann aber erst im Januar 2019 auf dem Filmfestival Max-Ophüls-Preis. Ziska Riemanns nächster Film „Get Lucky“ ist derweil schon fertig produziert und kommt im Herbst in die Kinos. Der Starttermin von „Electric Girl“ könnte misstrauisch machen: Im Juli, zur besten Ferienzeit, bringt kaum ein Verleih einen Film in die Kinos, in den er viel Hoffnung setzt.

„Electric Girl“ läuft ab heute im City 46, Bremen; 51 Stufen, Flensburg; Abaton, Hamburg; Kino in der Pumpe, Kiel; Capitol, Preetz; Kultiplex, Salzgitter

Sondervorstellung mit Regisseurin Ziska Riemann: heute, 20 Uhr, City 46, Bremen

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