: Die Muftis und die Moderne
ISLAMISCHES RECHT Steinigung und Ehrenmord – ist das alles? Allah bewahre! Zwei Überblicksdar- stellungen zeigen das weite Spek- trum islamischer Rechtsauffas- sungen
VON MICHAEL KIEFER
Es gibt nur wenige Themen, die in den vergangenen Jahren so leidenschaftlich und kontrovers diskutiert wurden wie das islamische Recht. Für seine zahlreichen, zumeist nichtmuslimischen Kritiker ist das islamische Recht ein Sammelsurium mittelalterlicher Normen und Gebote, die vielfach gegen die Menschenrechte verstoßen. Mit Nachdruck hingewiesen wird vor allem auf die in Saudi-Arabien, Sudan und anderen islamischen Staaten vollstreckten drakonischen Körperstrafen und die Ungleichbehandlung der Geschlechter. All dies sei mit den freiheitlichen Normen eines säkularen Verfassungsstaates unvereinbar und deshalb hätten die westeuropäischen Zuwanderungsgesellschaften mit Teilen der wachsenden muslimischen Bevölkerungsgruppe ein ernstzunehmendes Problem.
Gegen diese einseitige und letztlich verzerrende Darstellung des islamischen Rechts wendet sich das neue Buch des Erlanger Islamwissenschaftlers und Juristen Mathias Rohe. „Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart“ zeigt auf über 600 Seiten, dass es das eine islamische Recht zu keinem Zeitpunkt gegeben hat.
Vier Schulen
Die Interpretation der Rechtsquellen – insbesondere von Koran und Sunna – gestaltete sich von Beginn an mannigfaltig und führte alleine im sunnitischen Islam zu vier großen Rechtsschulen.
Rohe zeichnet mit großer Akribie die Entwicklungslinien der Kernbereiche nach und zeigt, dass das Konzert der Interpreten vielstimmig war. Die Regionalstudien zu Indien, Kanada und Deutschland zeigen, dass religiös begründete Rechtsauffassungen von Muslimen erhebliche Unterschiede aufweisen. Sicherlich, es gibt eine Minderheit von Islamisten, die nicht gewillt sind, eine demokratische Verfassung anzuerkennen. Andererseits muss jedoch gesehen werden, dass die große Mehrheit der Muslime einer freiheitlichen Staats- und Rechtsordnung positiv gegenüberstehen.
Vor einfachen Wahrheiten in der hiesigen Islamdebatte warnt daher Rohe. Nach seiner Auffassung besteht die Kunst darin, einen angemessenen Mittelweg zwischen Verharmlosung und Verteufelung zu finden. Rohes Schrift, die durchaus den Rang eines gewichtigen Standardwerks beanspruchen kann, leistet einen erheblichen Beitrag zur Versachlichung der Debatte, die nicht selten mit kulturalistischen Zwischentönen angereichert ist.
Auch das Buch „Islam und Verfassungsstaat“ stammt von einem Islamwissenschaftler. Lukas Wick fragt in seiner Dissertationsschrift, welche Auswirkungen die Etablierung des Konstitutionalismus in islamischen Ländern hatte und was ausgewählte muslimische Theologen von seinen Mechanismen und Paradigmen halten. Diesen Leitfragen vorangestellt ist ein langes Kapitel über die Grundlagen und Geschichte des Verfassungsstaates in Europa und die erheblichen theologischen Herausforderungen für die Kirchen.
Wick zeigt auf, dass das Christentum lange brauchte, um sich mit den Paradigmen des modernen Verfassungsstaats zu versöhnen. Der Konstitutionalismus mit seinen Forderungen nach individueller Freiheit und Rechten wurde von den Kirchen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein als Zumutung empfunden.
Koran und Moderne
Was für die Kirchen lange Zeit galt, gilt heute mehr denn je für den Islam. Der Konstitutionalismus ist in der islamischen Welt zwar alles andere als ein neues Phänomen, bereits 1876 erhielt das Osmanische Reich formal eine moderne Verfassung, jedoch scheint die islamische Theologie in ihren verschiedenen Ausprägungen wenig versöhnt mit einem Konstitutionalismus, der in einem hohen Maße die Selbstbestimmung des Individuums und Glaubensfreiheit gewährt.
Wicks ausgezeichnete Analyse ausgewählter Schriften von namhaften muslimischen Religionsgelehrten lässt die islamische Theologie in keinem günstigen Licht erscheinen. Die ausgewählten Autoren, darunter der derzeitige Mufti von Ägypten, Muhammad Sayyid Tantawi, vertreten zumeist vormoderne Ansichten zum Verhältnis von Religion und Staat. Zu einer theologisch vertieften Auseinandersetzung mit dem Konstitutionalismus erweist sich keiner der Autoren als fähig. Moderne geisteswissenschaftliche Ansätze fehlen. Stattdessen gibt es oberflächliche Hinweise zur Übereinstimmung von Koran und Moderne. Angesichts der enormen Herausforderungen, vor denen die islamischen Gesellschaften stehen, sind diese Befunde nicht gerade ermutigend.
■ Mathias Rohe: „Das islamische Recht – Geschichte und Gegenwart“. C. H. Beck, München 2009, 606 S., 39,90 Euro
■ Lukas Wick: „Islam und Verfassungsstaat. Theologische Versöhnung mit der politischen Moderne?“ Ergon, Würzburg 2009, 196 S., 29 Euro