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Archiv-Artikel

„Die Kirche spricht von Solidarität, handelt aber anders“

Mit einer „Prozession des Heiligen Prekarius“ protestieren linke Gruppen während des Weltjugendtags gegen zunehmend unsichere Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Auch die katholische Kirche profitiere von der Prekarisierung, sagt Jürgen Starke. Etwa wenn die Caritas Ein-Euro-Jobs anbietet

taz: Herr Starke, am Freitag soll eine Prozession des Heiligen Prekarius durch Köln ziehen. Nun hat der vorige Papst Johannes Paul II. ziemlich viele Heiligsprechungen vorgenommen, von einem Prekarius war allerdings nie die Rede. Wann und wo hat dieser Heilige gewirkt?

Jürgen Starke: Zum ersten Mal in Erscheinung getreten ist er im 15. Jahrhundert. Mit bürgerlichem Namen heißt er Pedro Lentini, ist 1496 als Kind bäuerlicher Eltern in einem Dorf nahe Rom geboren. 1525 traf er in Mühlhausen mit Thomas Müntzer zusammen, einem Prediger, der sich gegen die soziale Unterdrückung und Ausbeutung der Bauern und der ärmeren Stadtbevölkerung wehrte. So begann auch Lentini, sich um die sozialen Belange der Menschen zu kümmern. Laut Berichten ermutigten seine Taten dann immer mehr Bauern, gegen die Armut und Unsicherheit in ihrem Leben zu rebellieren.

Wer hat denn diese Legende erfunden?

Die Idee kommt aus dem Umfeld der italienischen Disobediente-Bewegung. Dort gab es verschiedene Auftritte des Heiligen Prekarius. Zum Beispiel anlässlich einer Wallfahrt am 6. November 2004, zu der sich mehrere tausend „Pilger“ in Rom einfanden – und dorthin sogar umsonst mit der Bahn fahren konnten! Das gilt als das erste Wunder des Heiligen Prekarius.

Wer hat diese Idee nach Deutschland gebracht?

Wir, die Anhänger des Heiligen Prekarius in Köln.

Stimmt es, dass Prekarius-Anhänger aus 12 Ländern nach Köln gekommen sind?

Wir sind schon international vernetzt. Und nicht nur Prekarius-Anhänger kommen, auch Leute aus den verschiedenen Umsonst-Bewegungen oder anderen Gruppen rund um die soziale Frage werden an der Prozession teilnehmen. Wie viele kommen werden, können wir natürlich nur schätzen: Es können 300 oder 3.000 Teilnehmer werden.

Dem heiligen Prekarius geht es ja, wie der Name sagt, um die Prekarisierung. Was heißt das? Im Duden steht das Wort nicht.

Das ist allerdings eine große Nachlässigkeit der Duden-Redaktion. Prekarisierung greift ja um sich. Um es theoretisch zu sagen: Die Geschichte des Proletariats ist eine Geschichte des Prekariats. Wir nehmen wahr, dass die Leute in immer unsichereren Verhältnissen leben müssen, dass immer mehr Druck auf jedem Einzelnen lastet, wie er sein Leben erfolgreich gestalten kann. Von der Hausfrau bis zum Banker: Alle stehen tagtäglich unter dem Druck, keine gesicherten Arbeitsverhältnisse mehr zu haben und täglich um ihr Auskommen kämpfen zu müssen. Das heißt für uns Prekarisierung. Wir halten das für einen Trend, der gesellschaftlich sehr gefährlich ist.

Was haben die katholische Kirche und der Weltjugendtag damit zu tun?

Die katholische Kirche spricht ja davon, dass es eigentlich eine Solidarität unter den Menschen gibt. Gleichzeitig handelt sie aber anders. Von daher ist der Weltjugendtag für uns ein guter Anlass, auf soziale Belange aufmerksam zu machen. Natürlich ist das auch ein gutes Forum, weil jetzt viele Leute nach Köln gucken.

Inwiefern handelt die Kirche unsolidarisch?

Sie macht das an vielen Punkten, sei es als Wirtschaftsunternehmen oder als gesellschaftspolitische Kraft. Als Wirtschaftsunternehmen unterhält sie zum Beispiel Ein-Euro Jobs bei der Caritas. Dort werden Menschen ausgebeutet. Kein Mensch kann verstehen, wie das mir christlicher Sozialethik vereinbar sein soll. Auch die Haltung der katholischen Kirche zu Fragen der Sexualität ist wenig solidarisch, bedeutet sie doch für viele Menschen, um das Beispiele der Empfängnisverhütung zu bemühen, faktisch ein Todesurteil. Die Solidarität unter den Menschen scheint für die katholische Kirche nur für einen sehr eingeschränkten Kreis von Menschen zu gelten. Insofern ist das schon die richtige Adresse für uns.

Aus welcher Ecke kommt diese Kritik: Sind die Anhänger des Heiligen Prekarius „Reformchristen“? An was glauben Sie?

Reformchristen sind wir sicher nicht. Aber wir sind Leute, die tatsächlich an die urchristlichen Motive der Gleichheit unter den Menschen und der Gerechtigkeit auf Erden glauben.

Halten Sie einen Dialog der Prekarius-Anhänger mit den „richtigen“ Pilgern des Weltjugendtags für wünschenswert – oder überhaupt möglich?

Ich denke, dass bestimmt 20 Prozent der Leute, die zum Weltjugendtag kommen, auch zum evangelischen Kirchentag fahren könnten. Natürlich kann ich mir da einen Dialog vorstellen. Es gibt Ansätze wie die Reformkirche in Südamerika, die zeigen, dass man auch mit Christen über aktuelle Probleme sprechen kann. Mit der Amtskirche ist das allerdings nicht vorstellbar: Da gibt es keine Berührungspunkte.INTERVIEW: SUSANNE GANNOTT