piwik no script img

Leben und Tod

Die Autorentheatertage am Deutschen Theater punkten mit drei Uraufführungen am Samstag

Foto: Szene aus „Ruhig Blut“ von Eleonore Khuen-Belasi Foto: Lupi Spum

Von Katja Kollmann

Boris Nikitin sitzt im oberen Foyer des Deutschen Theaters, blickt sich im Raum um – hohe, mit Gemälden verzierte Decken und mit hellen Stoffbahnen bespannte Seitenwände und postuliert ästhetisches Misstrauen gegen diesen Raum. Sein Stück „Aufführung einer gefälschten Predigt über das Sterben“, ein Gastspiel des Staatstheaters Nürnberg, wurde gerade in den Kammerspielen gezeigt. Nun sitzen ihm viele interessierte ZuschauerInnen im Autorensalon der Autorentheatertage gegenüber. Boris Nikitin, vierzig Jahre alt und gebürtig aus Basel, ruft auf zur fortlaufenden Neuaneignung der Wirklichkeit! Nikitin hat die soziale Wirklichkeit im Blick, die Form der Realität, die aus Normen und oft unsichtbaren Codes besteht. Die Ernsthaftigkeit, mit der er für die Infragestellung jeglicher von der Gesellschaft gesetzter Normen plädiert, berührt. Sein Theatertext wagt sich an das Aufbrechen eines der größten gesellschaftlichen Tabus: Er versucht sich an einer Neudefinition von Leben und Tod und stützt sich dabei auf eine alte Erkenntnis. „Nur dadurch, dass wir nicht leben, wird die Möglichkeit, dass wir leben, überhaupt erst zu einer Möglichkeit“, wusste schon Aristoteles. Nikitins langjähriger Künstlerkollege Malte Scholz steht, von dem Autor selbst inszeniert, als „Gastperformer“ auf der Bühne und bringt Nikitins Gedankenexperimente vermischt mit Erinnerungen an das Sterben seines Vaters im Duktus eines Fernsehpredigers an das Publikum. Scholz’ zuerst aalglatte, dann immer mehr entblößte Figur zieht einen in den Bann und stößt einen gleichzeitig ab. Die Mitglieder des Nürnberger Gospelchors und der Veitsbronner Gospelchors Vo!ces intonieren aufbauende Lieder und brechen die Predigt so ironisch auf. Was im Raum bleibt, ist ein zutiefst revolutio­närer Gedanke: wenn wir den Tod nicht als den Endpunkt des Lebens betrachten, sondern als eine mögliche von vielen Versio­nen, mit dem Leben umzugehen, dann ist auch das Leben an sich nicht mehr nur Zwang, sondern wird ganz konkret jeden Tag zu einer Möglichkeit.

Zehn zeitgenössische Theatertexte aus Österreich, Deutschland und der Schweiz sind bei den Autorentheatertagen am Deutschen Theater zur Aufführung gekommen. Drei Uraufführungen wird es am 8. 6. im Rahmen der Langen Nacht der AutorInnen geben. Die Jury hat sich für „Entschuldigung“ von Lisa Danulat, „Ruhig Blut“ von Eleonore Khuen-Belasi und „Zu unseren Füssen, das Gold, aus dem Boden verschwunden“ von Svetlana Kutschke entschieden. Die Jury war beeindruckt von Lisa Danulats Mut, brachiale Fragen in den Raum zu stellen, von Eleonore Khuen-Belasis sehr eigenem, poetischem Sound und von Svetlana Kutschkes AntiheldInnen, die sprachgewandt von ihrer eigenen Ohnmacht erzählen.

Interessant ist, dass sich drei eingeladene Theaterautoren – Boris Nikitin, Thomas Köck und Rene Pollesch – an einer Neubewertung des Zeitbegriffs versuchen. Thomas Köck hinterfragt in „Atlas“, inzeniert von Philipp Preuss am Schauspiel Leipzig, Redewendungen wie „aus der Zeit fallen“, „zeit-los sein“. Seine Protagonisten fragen sich: „Aus welcher Zeit falle ich eigentlich – und in welche falle ich hinein?“. Dies ist der abstrakt-philosophische Auftakt zu einer schrittweisen, sehr konkreten Annäherung an die Lebenssituation von ehemaligen vietnamesischen DDR-VertragsarbeiterInnen in der Nachwendezeit. Sie waren 1990 buchstäblich aus der Zeit gefallen (siehe auch taz, Seite 21). René Pollesch brachte am Schauspielhaus Zürich „Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini-Studien)“ zu Aufführung. Der Text ist eine Probenentwicklung. Nun stehen auf der Bühne des Deutschen Theaters Marie Rosa Tetjen, Kathrin Angerer und Martin Wuttke. Sie hadern mit dem Zeitbegriff. Ganz konkret. Denn sie spielen SchauspielerInnen, die sich nach der Vorstellung fragen, ob sie den ganzen Sommernachtstraum gespielt haben oder nur seinen Anfang … Herrlich groteske Nichtdialoge ergeben sich und hintergründige, verbale Situa­tionskomik führt den Humor ins Festival ein.

Bei „Cafe Populaire“ von Nora Abdel-Maksoud vom Theater Neumarkt Zürich hat die Autorin jede treffsichere Pointe in ihrer Komödie um die Schweizer Mittelschichts-Möchtegern-Kreative Svenja auf den Punkt genau inszeniert. Es kommt immer wieder zum Slapstick, als sich Svenjas politisch unkorrektes Alter Ego meldet und ganz direkt Macht über sie gewinnt. Eva Bay, Marie Bonnert, Simon Brusis und Maximilian Kraus bilden ein wunderbares Schauspiel-Quartett, das die Groteske von Anfang mitspielt. Die Satire nimmt in diesen wie im Flug vergehenden 90 Minuten beständig zu und damit auch die Selbstbespiegelung des Publikums. Die Selbstironie der Lacher wächst, die helle Freude am Theatergenuss bleibt. Zurecht wurde Nora Abdel-Maksoud im Rahmen der Autorentheatertage für „Café Populaire“ der „Hermann-Sudermann-Preis“ verliehen.

Weitere Informationen unter www.deutschestheater.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen