: Die Mutter eines Erfolgsmodells
Das Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF) ist Vorreiter eines Festivaltyps, der klassische Musik in ländlicher Idylle und an ungewöhnlichen Orten präsentiert. Intendant Christian Kuhnt im Interview über die Geschichte und das Konzept des Festivals
Interview: Ole Schulz
taz: Herr Kuhnt, Musikfestivals und -festspiele boomen. Wie behauptet man sich auf diesem Markt als Deutschlands größtes Klassik- und Musikfestival?
Christian Kuhnt: Tatsächlich ist die Zahl der Musikfestivals von rund 150 in den 1980er Jahren auf heute etwa 600 gestiegen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sich die Festivals einen Markt gesucht oder nur ein Kulturbedürfnis in den Regionen aufgegriffen haben. Ich sehe keine Konkurrenz, sondern nur, dass das Angebot in allen Genres sehr viel größer geworden ist. Von einem Überangebot sind wir weit entfernt. Mit unserem Ansatz, seit 1986 hochwertige Musik an ungewöhnlichen Orten zu präsentieren, sind wir jedenfalls zur Mutter eines Festivaltyps geworden – ein Erfolgsmodell, das in der ganzen Republik nachgeahmt wurde.
Sie sind also gar nicht mehr darauf angewiesen, das Festivalprofil ständig zu schärfen, wie es Veranstaltern sonst immer empfohlen wird?
Doch, natürlich müssen auch wir das. Heute reicht es nicht mehr, einfach Beethoven in einer Scheune oder Reithalle zu spielen, sondern es braucht etwas, was das eigene Festival von anderen unterscheidbar macht. Wir haben darum vor fünf Jahren zwei neue Schwerpunkte entwickelt: Das ist zum einen die KomponistInnen-Retrospektive, die weite Teile des Programms prägt, und zum anderen das Solistenporträt, das über eine normale Residency deutlich hinausgeht.
Sie hatten im Vorjahr 173.000 Gäste – so viel wie nie zuvor. Ist da nicht irgendwann der Punkt erreicht, dass das Festival seinen Charakter verliert?
Ich denke, die Gefahr ist nicht gegeben, solange man keine Rekorde jagt – zumal wir ja ein dezentrales Festival sind: Wir haben dieses Jahr 117 verschiedene Spielstätten. Das sind nicht nur Orte in ländlicher Idylle, für die das SHMF früher bekannt war, sondern auch andere unkonventionelle Bühnen, etwa ein Tomatengewächshaus oder eine stillgelegte Eisengießerei, wir gehen also auch in die urbanen Räume. Und wir freuen uns schon, dass so viele das Festival besuchen, darunter sind auch immer Menschen, die zum ersten Mal ein klassisches Konzert erleben.
Oft ist zu hören, Konzerte und Festivals würden zu viel Eintritt kosten. Verstehen Sie diese Kritik?
Ja, sie ist nachvollziehbar. Uns war es darum von Anfang an wichtig, günstigere Preise anzubieten als zum Beispiel das Lucerne Festival oder die Salzburger Festspiele – auch um breitere Teile der Bevölkerung zu erreichen. Bis heute kostet ein vergleichbares Konzert in Salzburg 185 Euro, bei uns nur 89 Euro. Ich weiß aber, dass auch das für den ein oder anderen zu teuer ist.
Von den 11,5 Millionen Euro, die das Festival kostet, schießt das Land Schleswig-Holstein eine gute Million dazu. Woher kommt der Rest?
Wir haben eine Eigenfinanzierungsquote von 90 Prozent. Alles außer den Zuschuss vom Land Schleswig-Holstein erwirtschaften wir selbst. Den Löwenanteil von rund 60 Prozent des Budgets erzielen wir über den Verkauf von Eintrittskarten; der Rest kommt von Sponsoren und, für uns ganz wichtig, durch Spenden der über 7.000 Mitglieder unseres Fördervereins.
Und welche musikalischen Schwerpunkte gibt es dieses Jahr?
Porträtkünstlerin ist die niederländische Geigerin Janine Jansen, die zehn Konzerte unterschiedlicher Art geben wird – etwa an der Seite von Sir Simon Rattle mit dem London Symphony Orchestra, aber auch intimere mit ihrem Ehemann und mit ihrem Vater. Die Komponisten-Retrospektive wiederum ist Johann Sebastian Bach gewidmet. Das wird aber kein „All Bach“-Spektakel, sondern wir wollen bestimmte Aspekte seines Werkes beleuchten, und gleichzeitig – das ist uns ein besonderes Anliegen – seine Wirkung auf die Nachwelt zeigen. Darum wird Musik von Johannes Brahms ebenso zu hören sein wie das Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“ von Alban Berg, aber auch eine Band aus Trinidad und Tobago wird Bach spielen.
Sie sagen, Bach habe auch Genres wie Jazz und Pop „wie kein Zweiter“ beeinflusst.
Das berühmteste Beispiel ist der im März leider verstorbene französische Pianist Jacques Loussier, der mit seinen Jazzinterpretationen von Bach berühmt wurde. Wir beleuchten im Programm neben Bachs Wirkung auf den Jazz aber zum Beispiel auch, wie Bach als HipHop-Tanz interpretiert werden kann. Dafür haben wir die Breakdance-Crew Flying Steps aus Berlin eingeladen.
Die Grenze zwischen Klassik und Pop aufzubrechen, gehört zum Programm des SHMF, unter anderem standen Künstler*innen wie Sophie Hunger, Chilly Gonzales und Judith Holofernes auf der Bühne.
Ich spiele seit meiner Jugend Schlagzeug, in unterschiedlichsten Formationen, in Rock- und Big-Bands. Mir war nie einsichtig, warum wir Musik so kategorisch aufteilen in E und U. Ein Sänger wie Roger Hodgson etwa, der die Musik von Supertramp maßgeblich geprägt hat und dieses Jahr beim Festival auftritt, wäre im 19. Jahrhundert wahrscheinlich ein Komponist romantischer Lieder gewesen. Bei Jamie Cullum, der auch eingeladen ist, kann man dagegen lange darüber diskutieren, ob er ein Pop- oder ein Jazzkünstler ist. Für uns ist eine solche Kategorisierung aber irrelevant.
Christian Kuhnt, Jg. 1967. Der Musikwissenschaftler ist seit Oktober 2013 Intendant des Schleswig-Holstein Musik Festivals – dieses Jahr vom 6. 7. bis 1. 9., Infos: www.shmf.de
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