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Ameisenwärme und Ameisennot

Das Dorf, in dem Christina Grätz aufwuchs, wurde für den Braunkohleabbau weggebaggert. Nun gräbt Grätz selbst in der Erde. Sie siedelt Ameisennester um, damit die Bewohnerinnen weiterleben können

Warum gehen Ameisen nicht in die Kirche? Weil sie Insekten sind

Von Luciana Ferrando (Text) und Ksenia Les (Foto)

An einem kühlen Samstagmorgen packt Christina Grätz ihr Werkzeug und fährt zu einem Kunden, um Tausenden von Ameisen zu einem neuen Zuhause zu verhelfen. In Nassenheide, im Norden Brandenburgs, am Ende einer kleinen Straße mit Kiefern, Feldern und Einfamilienhäusern, wartet schon der Kunde auf sie, in Gummistiefeln, eine Schaufel in der Hand.

Morgens um fünf Uhr fängt so ein Umzugstag an. Manchmal auch früher. Das Ende ist offen. Wenn jemand sie fragt, wozu die ganze Mühe, hat Christina Grätz ein paar Stichworte parat: Art­erhaltung, Naturschutzgesetz. Ameisen seien unter anderem wichtig, weil sie Schädlinge fressen und den Boden mit ihrem Gangsystem lockern.

Wenn es heute nicht so kalt wäre, würden die Ameisen sich an der Oberfläche sonnen, um das Nest später mit ihren Körpern zu wärmen, erklärt Christina Grätz. Doch sie verstecken sich unter der Erde, und erst als sie anfängt zu graben, findet sie die Tiere. Sie arbeitet ohne Handschuhe, die ersten Ameisen krabbeln auf ihre Hände, wandern hoch bis in ihren Nacken. Sie ist daran gewöhnt, auch an die Bisse. „Kerbameisen“, sagt sie, sie hat die Art gleich erkannt.

Sie füllt nummerierte Säcke mit dem Sand und der Erde, die zum Ameisenhaufen gehören. Viel darf nicht rein, denn die Säcke muss sie später zum Auto und zum neuen Standort tragen. Die Ameisen aus Nassenheide ziehen in den Wildpark Hohenbruch bei Oranienburg um, etwa acht Kilometer entfernt.

Nach einigen Stunden ist das Loch eineinhalb Meter tief. Fast 50 Säcke sind voll mit Erde, Holz, Nistmaterial, Ameisen, der Ameisenbrut. Dass Kerbameisen wie hier Holz als Baumaterial nutzen, habe sie noch nie gesehen, sagt Grätz, während sie im Loch steht. Sie zeigt auf Stöckchen, Blätter, Holzstücke. Bei jedem Nest gebe es Neues zu entdecken, das sei das Schönste. Schätze habe sie noch keine gefunden, dafür andere Kuriositäten, etwa Stücke aus einer alten Eisenkanne oder Bierflaschen aus dem Jahr 1939.

„Hier, vorsichtig, eine Königin“, freut sich Christina Grätz plötzlich, nimmt die Ameise und steckt sie in ein sauberes Rote-Bete-Glas, dazu ein bisschen Erde und ein paar Arbeiterinnen. „Sie muss sich bedient fühlen“, sagt sie. Eine Königin kann zwischen 20 und 30 Jahre alt werden, ein Nest wiederum könne Hunderte, Tausende Jahre stehen, wenn man es nicht zerstört. Manche Nester haben nur eine Königin, andere ganz viele. „Einmal haben wir bei tausend aufgehört zu zählen“, sagt die Ameisenumsiedlerin.

Grätz ist in einem Dorf aufgewachsen, das zu DDR-Zeiten wegen der dortigen Braunkohle abgebaggert wurde. Sie liebte die Natur, die Teiche und Wälder. Durch die Umsiedlung war auf einmal alles vorbei. Als nach der Wende ein anderes Dorf in der Nähe von Cottbus auch abgebaggert werden sollte, besetze Christina Grätz es zusammen mit anderen, um gegen den Braunkohleabbau zu protestieren.

Heute hat die 45-Jährige eine eigene Firma für Ameisenumsiedlungen und Renaturierung. Für Privatleute siedelt sie die Ameisennester auch mal ehrenamtlich um.

Als nur noch Christina Grätz’Kopf aus dem Loch herausragt, das sie gegraben hat, findet sie immer noch Ameisen. Manche Nester von Kerbameisen können bis zu zwei Meter tief sein, sagt sie. Deshalb sei es fast unmöglich, alle Insekten an einem Umsiedlungstag mitzunehmen.

Das Loch bleibt offen, sie bittet den Grundstückbesitzer, etwas darüber zu legen, damit keine Tiere hineinfallen, und verspricht, in der Woche noch einmal zu kommen. „Wenn ich ehrenamtlich arbeite und noch zwei-, dreimal vorbeischauen muss, auch auf eigene Kosten, ist mir das egal“, sagt sie. „Das Wichtigste ist, so viele Tiere wie möglich zu retten.“

Normalerweise bauen sich die zurückgebliebenen Ameisen ein Nest neben dem Loch und machen Grätz die Arbeit so leichter. „Ob die, die da herumlaufen, dazugehören?“, fragt sie und lacht. Oft helfen ihre Kinder bei ehrenamtlichen Umsiedlungen mit, die MitarbeiterInnen ihres Unternehmens könne sie nicht darum bitten.

Als der Grundstückbesitzer herausfand, dass genau da, wo sein Haus gebaut wird, eine Kolonie Ameisen wohnte, erinnerte er sich an einen Fernsehbericht über Christina Grätz, googelte und kontaktierte sie.

Er fragt Grätz, wie sie dazu kam, Ameisen umzusiedeln. Sie antwortet, dass sie als Biologin in einem Ingenieurbüro gearbeitet habe. Sie hat Pflanzenbestände untersucht, Gutachten geschrieben, Ameisen umzusiedeln war Teil des Jobs. „Oh Gott, was mache ich hier?“, dachte sie beim ersten Mal.

Ein Ameisennest kann Hunderte, Tausende Jahre stehen, wenn man es nicht zerstört

Mediale Aufmerksamkeit bekam Grätz, als sie ihre Begeisterung und ihr Wissen gemeinsam mit der Autorin Manuela Kupfer in dem Buch „Die fabelhafte Welt der Ameisen“ veröffentlichte. „Ich möchte die Herzen der Leser berühren und für die Wunder des Lebens öffnen.“ Genau das habe sie gefühlt, als sie als Anfängerin die Hände in ein Nest grub und zum ersten Mal das Kribbeln und die Wärme der Ameisen spürte.

Auf der Fahrt zum neuen Ameisenzuhause erzählt Grätz ihrer älteren Tochter Jasmin über die Sprechanlage die Einzelheiten der Umsiedlung. Mittlerweile sei die 22-Jährige eine engagierte Helferin. Ihre jüngste Tochter sei mit 11 Jahren auch schon bei einer Umsiedlung dabei gewesen. Ihre Aufgabe: die Säcke sortieren und sie beim neuen Nest schütteln, damit keine Ameise drin bleibt.

Auch der 20-jährige Sohn war früher dabei, doch jetzt habe er sich für eine andere Richtung entschieden, BWL. „Dass mein Sohn sich einen Anzug zum Geburtstag wünschte, war komisch für mich“, sagt Grätz.

Wichtig sei ihr, den Kindern die Liebe zur Natur weiterzugeben. Zuhause waren Ameisen ein wiederkehrendes Thema. Als sie klein war, habe Jasmin ihre Mutter einmal gefragt, warum sie nur über Ameisennester rede. Die Mutter fragte zurück, warum sie Überraschungseier so toll finde. „Ist doch klar! Ich weiß nie, was drin ist“, antwortete die Tochter. „Ganz genau“, sagte die Mutter.

Im Wildpark beginnt Grätz mit den Helferinnen, das neue Ameisennest zu bauen. Die Säcke müssen ausgeladen werden, zuerst die mit den Nummern 1 bis 8, in denen befindet sich das Nestbaumaterial. Grätz gräbt schon das Loch, diesmal nur 50 Zentimeter tief. Den Kern des Nestes rekonstruiert sie mit den ersten Säcken, den Inhalt der restlichen Säcke streuen sie und ihre Helferinnen drum herum, die Ameisen finden alleine den Weg nach Hause.

Zuletzt streut sie einen Kreis aus Zucker, damit sich die Ameisen in den ersten Tagen nicht um das Essen kümmern. Sie sollen so wenig Stress wie möglich empfinden.

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