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Archiv-Artikel

Pippi Langstrumpfs Bizeps

Kino der Kindheit (5): Die Kurlichtspiele in Westerland auf Sylt sind heute ein Gebäude, aus dem Farbe und Leben gewichen sind. Erst wenn man nicht mehr davor steht, fährt die Erinnerung wie eine Kamera in die Vergangenheit

Kurlichtspiele – dieses Wort mag etwas Tantenhaftes haben, für mich ist es mit Glück verbunden. Was diese vier Silben heraufbeschwören, sind Tage am Meer mit Sand in den Haaren, Teer an den Füßen und Krebsen im Plastikeimer. Meine Eltern hatten damals, um 1970, ein Apartment in Westerland auf Sylt; wir waren oft am Wochenende und immer in den Ferien dort.

Wenn die Sonne schien, gingen wir Kinder zum Strand (bis auf einmal, als wir auch an einem Sonnentag ins Kino durften, dazu gleich). Regnete es aber so ausgiebig, dass wir nicht nach draußen gehen konnten, und wurden wir dann in dem engen Apartment unruhig und nervig, dann kam es vor, dass wir ins Kino geschickt wurden. In einer schnörkeligen Fünfzigerjahreschrift stand der Name Kurlichtspiele über dem Eingang geschrieben.

Dort steht er immer noch. Wie es aber so ist, als Erwachsener findet man den Glanz der Kindheit am konkreten Objekt nur noch in Spuren wieder. Das letzte Mal war ich vor zwei Sommern auf Sylt, „Chihiros Reise ins Zauberland“ musste ich mir mit meinen Kindern aber leider in einem nichtssagenden Schachtelkino in der Strandstraße angucken. Die Kurlichtspiele in der Bismarckstraße hatten geschlossen. Gezeigt habe ich meinen Kindern das Gebäude dennoch. Immerhin, die Glaskästen, die Filmfotos präsentierten, hingen immer noch links und rechts vom zentralen Glaseingang. Ansonsten sah das beige Haus verhärmt aus, als sei schon lange das Leben aus ihm gewichen.

Es ist eine Standardbildfolge: Man zeigt eine Ruine (oder wie bei „Titanic“ ein Wrack), dann fährt die Kamera nach vorne, und währenddessen verwandelt sich alles, bis man am Schluss der Kamerafahrt tief in die Vergangenheit eingetaucht ist und die Ruine wieder in ihrem alten Glanz erstrahlt. Bei mir hat das alles vor zwei Jahren nicht recht geklappt. Ich bin, vor den Kurlichtspielen stehend, nicht wirklich in die Vergangenheit eingetaucht, habe nicht wirklich noch einmal den dicken Teppich im Foyer unter meinen Füßen gespürt, konnte nicht wirklich noch einmal dieses Verschnörkelte, Schnuckelige des im Stile eines großstädtischen Filmpalastes, nur kleiner, entworfenen Innenraumes wahrnehmen. Stattdessen bin ich, mein Tagebuch weist es aus, auf die Metaebene gerutscht und habe darüber nachgedacht, warum mich Kinofilme, die mit solch schwelgerischen Erinnerungseinstiegen operieren, meistens kriegen. Ich weiß es immer noch nicht.

Besser kann ich mich an die Kurlichtspiele erinnern, wenn ich nicht direkt vor ihnen stehe. Dann produziert mein Gedächtnis innere Bilder von einem dunklen Raum, in dem eine Kinderhorde auf harten Stuhlreihen sitzt und geschlossen nach vorne schaut. Das Zappelige der Situation kommt mir wieder in den Sinn. Die Filme selbst allerdings bleiben unscharf, nur an Theo Lingens nasale Stimme und Peter Alexander im Frauenrock kann ich mich noch deutlich erinnern; gezeigt wurden diese Pauker-und-Lümmel-Filme und die deutsche Version von „Charlys Tante“.

Einmal – einmal! – allerdings habe ich Pippi Langstrumpf gesehen, nicht nur die Film-Pippi, nein, sondern die echte Pippi: Die Schauspielerin Inger Nilsson stand, wohl im Rahmen einer Promotour, wirklich und in echt auf der kleinen Bühne unterhalb der Leinwand der Westerländer Kurlichtspiele. Ich weiß noch, dass es einen Mann mit einem Mikrofon gab, der sagte, dass auf der Fahrt ihr Wagen im Watt stecken geblieben sei und nur Pippi ihn wieder herausziehen konnte. Dann zeigte Inger Nilsson ihren Bizeps. Natürlich bestärkte man sich im Publikum lauthals gegenseitig, dass diese Geschichte überhaupt nicht wahr sein könne (eine frühe Lektion über Schein und Sein), aber beeindruckt waren wir schon.

Das war meinem Gedächtnis zufolge der einzige Sonnentag, an dem wir damals ins Kino gehen durften. Ein großer Erinnerungsschatz. Ansonsten aber mag ich heute aus irgendeinem Grund oft Filme, in denen es ausgiebig regnet. DIRK KNIPPHALS