piwik no script img

dvdeskHunde und Rentiere stürmen und stieben

„Das weiße Rentier“ (Finnland 1952, Regie: Erik Blomberg). Die Edition ist als Import unter dem englischen Titel „The White Reindeer“ ab rund 20 Euro erhältlich

Eine wilde Jagd auf Schlitten, Rentiere ziehen die Menschen durch endlosen Schnee. Alles ist Schnee hier, und wenn nicht Schnee, ist es Eis, in Lappland, wo dieser Film, ein Klassiker des finnischen Kinos aus dem Jahre 1952 ausschließlich spielt. Es gibt eine Geschichte, und was für eine, aber vor allem gibt es den Schnee. Gespurte Bahnen darin für die Ski, unge­spurtes Gelände, weit und hoch mit Bäumen und Kuppen, nie das hohe Gebirge.

Spuren von Menschen darin und auch von Tieren, Hunden und Herden von Rentieren, manchmal stürmen und stieben sie auf und davon, manchmal ein einzelnes Tier oder Spuren davon. Hufen, die Flecken aus Dunkelgrau oder Schwarz ins strahlende Weiß gestanzt haben. Die Weite ist spürbar, die Augen können sich verlieren in den Totalen, auch im für heutige Blick­gefühle eng wirkenden klassischen 4:3-Format.

Aber da sind nicht nur die Totalen. Vielfach und vielgestaltig sind die Close-ups, vor allem des Gesichts von Mirjami Kuosmanen, Koautorin des Films, Ehefrau des Regisseurs Erik Blomberg (der hier überdies als Kameramann agiert), ein schönes Gesicht, gerahmt von wilden Haaren, gerahmt von Mützen, die die Samen, Männer wie Frauen, zu Schutz und Schmuck tragen. Blomberg filmt dieses Gesicht wie den Schnee, vielgestaltig, Spuren von Sonne und Schatten, sehr tiefer Finsternis ziehen darüber. Eine sehr dunkle Geschichte erzählt „Das weiße Rentier“ ins strahlende Weiß dieser Landschaft.

Kuosmanen spielt eine Frau namens Pirita, in der wilden Jagd des Beginns fallen die Augen des Hirten Aslak (Kalervo Nissilä) auf sie und ihre Augen fallen auf ihn; wer hier wen fängt, ist ohnehin schwer zu sagen, mit Geschick wirft auch sie den Strick, mit dem man hier Rentiere zur Strecke bringt; er geht zu ihrem Vater und wirbt um sie, mit Worten und Schmuck und mit sich und seiner auch sehr tollen Mütze. Bald fallen sie einander in die Arme, und mehr. Aber dann ist er immerzu weg, monatelang mit den Rentieren unterwegs, bis Pirita verzweifelt. Sie verzweifelt so sehr, sie geht zum Schamanen Tsallku-Nilla, der mischt ein Gebräu, in das zehn Hoden von Rentieren kommen, er spielt eine Trommel mit Runen dazu, all das soll ein Liebestrank werden, mit dem Pirita ihren Gatten Aslak wiedergewinnt. Dazu jedoch muss sie an einem heiligen Ort das erste Tier töten, das ihr begegnet: ein weißes Rentierkalb.

Sie frenetisiert sich durch Trank und Getrommel, sie tötet das Kalb und so geschieht ein schreckliches Unglück. Sie wird verhext, wird zur Samen-Sirene, verwandelt sich immer wieder in das weiße Rentier des Titels. Als solches schwingt sie die Hufe und trabt und rennt anmutig, weiß auf weiß, durch den Schnee, lockt die Männer, lockt sie in Unglück und Tod. Aber auch unverwandelt tun Trank und Opfer ihr tödliches Werk: Ein Mann verfällt ihr, als er mit einer anderen vor dem Traualtar steht, das kann kein gutes Ende nehmen und nimmt es auch nicht. Auch sich selbst wird ­Pirita, die Schöne, vor dem Spiegel unheimlich, es wachsen ihr Eckzähne wie einer Vampirin.

Das alles ist, bis zum absehbar bitteren Schluss, in suggestiven Stimmungsmalereien erzählt. Stummfilmhaft sparsam im Dialog, viel Schnee, viel Gesicht, viel Bewegung im Schnee und im Gesicht, allerdings winkt dabei die klassisch orchestrale Musik des seinerzeit in Finnland berühmten Komponisten Einar Englund allzeit durchaus überwältigend mit dem Zaunpfahl, mal jubiliert sie, mal dräut sie, dann fährt sie in die Glieder und geht, wenn der Trank wieder sein Hexenwerk tut, durch Mark und durch Bein. Der Film war ziemlich verschüttet, das britische Label Eureka hat ihn für eine prächtige Edition wiederentdeckt. Ekkehard Knörer

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen