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Archiv-Artikel

Euphorische Phasen und äußere Zwänge

HISTORIE Die Geschichte gemeinschaftlicher Wohnformen lässt sich in Europa bis ins ausgehende 18. Jahrhundert zurückverfolgen

Erste Frühformen gemeinschaftlicher Wohnformen modernen Zuschnitts entstanden an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert mit lebensreformerischen Gemeinschaften. So verband das von Robert Owen begründete und in seinen Grundzügen bis heute funktionierende „industrial village“ im schottischen New Lanark Wohnen und Arbeiten, aufbauend auf der Idee von Solidarität und getragen von einer philanthropischen Grundhaltung. Andere frühe Projekte verloren dagegen bald ihre kollektive Identität, weil sich die Menschen nicht den oft paternalistischen Ansprüchen der Gründer unterwerfen wollten.

Das änderte sich im frühen 20. Jahrhundert, als kommunitäre Wohnprojekte international und zunehmend in Selbstorganisation der Nutzenden entstanden. Waren es nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert oft noch Projekte, die auf den Ideen einzelner charismatischer Protagonisten oder Investoren fußten, so traten bereits kurz danach genossenschaftliche Gründungen und erste Baugemeinschaften in den Vordergrund.

Von Berlin bis Wien

In Metropolen wie Stockholm, Kopenhagen, Berlin und Wien, aber auch in Breslau und anderen Industriestädten erbauten sie zwischen 1900 und 1930 meist innerstädtische Wohnblöcke, zur Miete oder als Wohneigentum. Der Erleichterung des Alltagslebens in der modernen Industriegesellschaft, zumal für berufstätige Frauen, sollten Speisesäle, Wäschereien, Bildungsangeboten und Kindergärten dienen.

Um die Mitte des 20. Jahrhunderts jedoch verlor dieses oft eher mittelschichtorientierte Wohnmodell mit zunehmender Individualisierung, der Technisierung des Haushaltes und dem Drang zum Eigenheim offensichtlich seine Attraktion. Auch wo die Häuser bis heute Bestand haben, traten die gemeinschaftlichen Aktivitäten in den Hintergrund.

Der Beginn eines Revivals gemeinschaftlicher Wohnformen fand nach 1969 statt. Überall in Europa wurden aus „Squats“ gemeinschaftliche Wohnprojekte entwickelt. Oft als Ergebnis verfehlter Stadterneuerungspolitik wurden leer stehende Wohnblöcke, Kasernen und Fabriken anfangs meist von Studierenden, in der Folge auch von Wohnungs- und Arbeitslosen, in Besitz genommen. Berlins über 300 instandbesetzte Mietshäuser und Kopenhagens Christiania stehen für diesen Typus.

Während einige der Squats nach einer euphorischen Phase an äußeren Zwängen und oft auch eigenen Widersprüchen scheiterten, erwiesen sich andere über inzwischen mehr als drei Jahrzehnte als stabile Nuklei baulicher und sozialer Stadtreparatur.

Eine inzwischen fast in Vergessenheit geratene Besonderheit ist, dass zur Konfliktminderung und zugleich zur Unterstützung alternativer Wohnformen viele Städte die bauliche Selbsthilfe im Altbau zum Teil großzügig unterstützten. In Berlin etwa endete das Programm zur „Wohnungspolitischen Selbsthilfe“ erst um das Jahr 2000. Die Zeit ist überfällig für neue Förderprogramme zur Unterstützung gemeinschaftlicher Wohnformen.

TKS, CD