: Stationendrama mit Windmaschinen
Der Lebens- und Leidensweg einer jungen Libanesin auf der Flucht nach Europa: „Ghalia“ mit der Beiruter Zoukak Theatre Company im Theater Aufbau Kreuzberg
Von Tom Mustroph
Dutzende Ventilatoren dröhnen an den Seiten und der Rückwand der Bühne des Theaters Aufbau Kreuzberg. Sie erweitern den Raum zu einer Maschinenhalle von beachtlichem Ausmaß (Bühnenbild: Hussein Baydoun). Die Motoren erzeugen Lärm. Das lässt an Startrampen denken, an Flugzeuge, die Menschen gewollt oder ungewollt – bei Abschiebungen – an andere Orte bringen.
Das Industrie-Ambiente weckt aber auch Assoziationen zu den improvisierten Unterkünften von Flüchtenden auf ihren langen Wegen. Zugleich wohnt dem Wind, den die Rotoren produzieren, eine poetische Kraft inne. Es kann der Wind sein, der die Blätter des Lebens aufhebt, sie in die Luft wirbelt, die Unterseite zuoberst kehrt und für horizontale wie vertikale Bewegung sorgt.
Dieser Bewegungsimpuls treibt auch die Hauptfigur Ghalia in dem gleichnamigen Stück der Zoukak Theatre Company aus Beirut. Sie ist ein Mädchen, das das Leben liebt und immer schmerzhafter die Begrenzungen der Gemeinschaft dieses Dorfes irgendwo im Libanon spürt. Ghalia (Rym Mroueh) trauert dem Vater hinterher, den sie nicht kennt, weil er längst die Familie verlassen hat. Sie kämpft mit den Onkeln und ihrer Mutter, die sie verheiraten wollen mit einem Burschen, den sie nicht liebt. Einzige Verbündete ist eine Tante, die sich selbst den Verheiratungspraxen ihrer Familie widersetzt hat und ein politisches Leben zwischen Engagement für die Palästinenser und Kampf um Emanzipation der Frauen führt.
Ausgerechnet im Moment der Rebellion Ghalias aber gerät sie in eine resignative Stimmung und fragt sich, ob sie sich für ihr eigenes Lebensglück nicht doch mehr der Umgebung hätte anpassen sollen.
Regisseur Omar Abi Azar skizziert diese dörfliche Gemeinschaft in szenischen Miniaturen, die von Musik und Chorgesang unterstützt werden. Musikerinnen an Violine und Schlagwerk sorgen für ansteckenden Rhythmus. Nicht immer klar ist aber, ob die Musical-Elemente Wohlfühlstimmung erzeugen sollen oder eher als ironische Zitate zur Charakterisierung einer auch von Beirut aus gesehen überkommenen Lebensform gedacht sind.
Als Ghalia schwanger wird und der Vater des werdenden Kindes – ein Palästinenser, der in der dörflichen Gemeinschaft der Libanesen keine Lebenschancen für sich sieht – sie verlässt, macht auch sie sich auf. Ziel ist Europa. Wohin sie aber nur über Umwege gelangt.
Autorin Maya Zbib, die diesen Text im Rahmen des New Writing Program am Royal Court Theatre London verfasste, lässt ihre Protagonistin über eine Vielzahl der Kriegsschauplätze des Nahen Ostens ziehen: nach Syrien und in den Irak, an den Persischen Golf, nach Ägypten und Libyen. Unterwegs, noch beginnend in der Heimat, wird sie vergewaltigt und gedemütigt, geschlagen und ausgebeutet. Sie findet auch wieder Liebe, diese allerdings findet den Tod an einem der vielen Kontrollposten auf dem langen Weg.
„Ghalia“ ist eine moderne Odyssee, von einer Frau, auf die niemand wartet, abgesehen von Mutter und Tante, die Angst um sie haben, sie aber nicht verstehen und dahin zurückwünschen, wovor sie doch floh.
Das Stück setzt das Drama einer weltweiten Jugend in Szene, die zerrissen ist von den eigenen Ambitionen und der Trägheit ihrer Herkunftsgesellschaften und die zerschellt an den Schutzwällen derer, die Reisefreizügigkeit für sich gern in Anspruch nehmen, sie anderen aber verwehren.
Für Zuschauer, die des Arabischen nicht mächtig sind, ist schwer zu entscheiden, inwieweit Ghalias Odyssee nur all die schrecklichen Nachrichtenhäppchen biografisch verdichtet – oder inwieweit das gesprochene, gesungene und skandierte arabische Wort Köpfe und Herzen bewegt. Der Rhythmus der Sprache und manch poetische Wendung in den Übertiteln lassen Letzteres zumindest vermuten.
Nach Deutschland brachte diese im Rahmen der Doppelpass-Förderung der Bundeskulturstiftung entstandene Produktion, die nach Aufführung im Schauspielhaus Hamburg nun eben diese Woche im Theater Aufbau Kreuzberg zu sehen war, Eindrücke vom Leben und Hoffen, vom Wünschen und Leiden, die über den Nachrichtenstrom aus dieser Region hinausgehen. Und ambitioniert ist das Vorhaben der libanesischen Gruppe, die ihr Stationendrama auch noch an die Ereignisstätten des Stücks bringen will, um in Syrien und dem Irak, am Golf, in Ägypten und in Libyen von Selbstbestimmung und Emanzipation sowie dem Kampf gegen Grenzen und Barrieren zu erzählen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen