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Archiv-Artikel

Immer westwärts

Sie gelten als Terrorismus-Aussteiger: zehn RAF-Mitglieder, die in den 80er-Jahren in die DDR abgetaucht waren. Doch sind sie dort wirklich geblieben oder waren sie zu Aktionen weiterhin auch in der Bundesrepublik unterwegs? Die Publizistin Regine Igel hat im Stasi-Archiv in Berlin Dokumente entdeckt, die auf Visiten in Stuttgart und Ludwigshafen schließen lassen

von Thomas Moser

Zwei Jahre lang hat Regine Igel Unterlagen der früheren DDR-Staatssicherheit studiert. Sie wollte wissen, welche Verbindungen die früheren realsozialistischen Staaten und ihre Geheimdienste zu internationalen Terrorgruppen hatten, speziell auch zur RAF. Vor Jahren hatte Igel die Verbindungen westlicher Geheimdienste zu Terrorgruppen in Italien untersucht und in dem Buch „Terrorjahre. Die dunkle Seite der CIA in Italien“ veröffentlicht. Jetzt wollte sie den Blickwinkel auf die andere, die östliche Seite richten und stieß auf bemerkenswerte Befunde.

Einige der Westterroristen hatten schon früh und intensiv Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Sie wichen vor polizeilicher Fahndung immer wieder nach Ostberlin aus. So bereits 1970 nach der Befreiung Andreas Baaders in Westberlin oder 1975 nach der Entführung des Westberliner CDU-Politikers Peter Lorenz. Ohne Unterstützung durch DDR-Organe wäre das nicht möglich gewesen. Später gab es auch paramilitärische Ausbildungen für RAF-Leute in der DDR. Das ist so weit bekannt.

Die Dokumente, auf die Regine Igel nun stieß, elektrisieren. Es handelt sich um Informationen über jene zehn RAF-Mitglieder, die in der DDR Zuflucht gefunden hatten und die im Juni 1990 in Folge der revolutionären Umbrüche entdeckt und festgenommen worden waren: Inge Viett, Silke Maier-Witt, Susanne Albrecht, Henning Beer, Christine Dümlein, Werner Lotze, Sigrid Sternebeck, Ralf Baptist Friedrich, Monika Helbing und Ekkehard von Seckendorff.

Die RAF: Inoffizielle Mitarbeiter mit Feindberührung

Bisher dachte man, sie hätten das biedere Leben von DDR-Bürgern geführt, irgendwo in Magdeburg, Eisenhüttenstadt oder Neubrandenburg, im Plattenbau wohnend und arbeitend in irgendeinem volkseigenen Betrieb. Allerdings wurden die im Westen Gesuchten vom MfS als besondere Mitarbeiter geführt, als IMB, sogenannte Inoffizielle Mitarbeiter mit Feindberührung, Einflussagenten gewissermaßen. In den Unterlagen der MfS-Abteilung XXII (Terrorabwehr), beziehungsweise was davon übrig geblieben ist, finden sich Blätter, die nahelegen, dass die zehn in den fraglichen Jahren 1980 bis 1989 immer wieder auch in der Bundesrepublik unterwegs waren. Das klingt abenteuerlich, und deshalb zerbrechen sich Stasi-Forscher, kritische Polizisten und Journalisten den Kopf. Was könnten diese Funde bedeuten, und welche Szenarien tun sich da auf?

Die Informationen wurden von der für die Funkaufklärung zuständigen MfS-Hauptabteilung III erstellt. Sie fing Polizeidaten aus Westdeutschland ab, nach denen die genannten RAFler an der Grenze, aber auch innerhalb der Bundesrepublik kontrolliert worden sein sollen, zum Beispiel in Ludwigshafen, Stuttgart oder Wackersdorf. Technisch war die Stasi dazu in der Lage. Sie konnte nicht nur Polizeifunk mitschneiden, sondern sich auch in das interne Informationssystem der Polizei, kurz Inpol, einloggen und dort gespeicherte Daten abgreifen.

Nimmt man an, die RAF-Mitglieder seien tatsächlich von der DDR aus in die BRD gereist, dann sicher nicht mit ihren Klar-, sondern mit Aliasnamen. Wenn die Polizei diese Aliasnamen nicht kannte, konnten die Personen nach einer Kontrolle ungehindert weiterfahren. Die Stasi fing die Polizeiabfragen live ein und registrierte sie für sich. So entstand eine Sammlung von Bewegungsdaten, die jetzt entdeckt wurden.

Was den Vorgang mysteriös macht, ist, dass in diesen MfS-Blättern, die an die zuständige Abteilung (HA XXII) gingen und die Klassifizierung „Streng geheim!“ trugen, die RAF-Mitglieder mit Klarnamen auftauchen. Am 19.3.1989 beispielsweise notierte die HA III, dass am 4.2.1989 um 12.02 Uhr Susanne Albrecht in Wackersdorf „durch die Sicherheitsdienste des BRD-Landes Bayern überprüft“ worden sei, und zwar im Inpol-System. Oder: Am 17.7.1989 um 13:58 soll Inge Viett in Ludwigshafen kontrolliert worden sein. Stellte die Stasi intern die Identität der Terroristen durch Abgleich der Aliasnamen her? Oder kannte die bundesdeutsche Polizei etwa selber die Identität hinter den Aliasnamen? Und warum wären die gesuchten Terroristen dann nicht festgenommen worden? Diese Fragen sind es, die aufschrecken lassen.

Stasi-Forscherin Igel stieß in den Akten zum Beispiel auf folgenden Fall: Bei einer Straßenkontrolle in Bayern stellte die Polizei die Identität von Regina Nicolai, Mitglied der Bewegung 2. Juni, fest. Doch aus dem Inpol-System kam die Anweisung: „Keine Festnahme!“ Polizisten bestätigen, dass Terroristen nicht von normalen Streifenpolizisten festgenommen werden sollten. Stellten die fest, dass sie einen gesuchten Terroristen vor sich hatten, sollten sie lediglich eine genaue Anhaltemeldung machen und den Mann oder die Frau weiterreisen lassen. Das BKA wollte diese gefährlichen Personen durch Spezialkräfte festnehmen oder aber Bewegungsbilder erstellen, um festzustellen, mit wem sie Kontakt hatten. „Beobachtende Fahndung“, kurz „Befa“, heißt diese Strategie.

Auch die operativen Kassenbücher der Stasi liefern Anhaltspunkte für den Einsatz der ausgestiegenen RAF-Mitglieder. Sie erhielten regelmäßig finanzielle Zuwendungen. Silke Maier-Witt zum Beispiel bis Ende 1989 insgesamt über 45.000 Mark. Wenn die zehn von der DDR aus in die BRD gereist sein sollten, dann sicher nicht ohne Wissen und ohne Unterstützung der Stasi. Aber: entsprechende Primärdaten, also MfS-Angaben, die belegen, dass diese Reisen stattgefunden haben, finden sich in den Akten nicht. Was nicht heißt, dass es sie nicht gab. Ein Großteil der Akten der Abteilung XXII wurde in der Wendezeit vernichtet. Regine Igel kritisiert darüber hinaus, dass ihr nicht alle verbliebenen Akten vorgelegt wurden und dass es in den vorgelegten zahlreiche Schwärzungen gibt. Einige Akten sind gesperrt. Sie liegen in der Geheimschutzstelle der Stasi-Unterlagenbehörde, weil sich darin Informationen über westliche Geheimdienste und Sicherheitsorgane befinden, die die Stasi ausspioniert hatte. Der Umfang dieser weggeschlossenen Akten beträgt nach Auskunft der Jahn-Behörde etwa einen laufenden Meter für die Abteilung XXII. Insgesamt seien etwa 95 laufende Meter Stasi-Akten in dieser „gesonderten Verwahrung“. Manche Historiker gehen allerdings von 450 Metern aus.

Die von der MfS-Funkabwehr abgefangenen und an die MfS-Terrorabteilung weitergegebenen bundesdeutschen Polizeidaten umfassen Dutzende von Reisen der zehn Aussteiger in den Westen. Inge Viett soll etwa 150-mal überprüft worden sein. Ist das vorstellbar? Sollte die DDR-Führung mit ihrem pathologischen Sicherheitsbedürfnis gesuchte Staatsfeinde ständig zwischen beiden deutschen Staaten hin- und herreisen lassen haben? Und sollten die bundesdeutschen Sicherheitsorgane jahrelang nichts von solchen Reisen bemerkt haben?

Wie man es wendet, es bleibt ein Rätsel. Denn wenn man annimmt, dass die RAF-Aussteiger tatsächlich brave DDR-Bürger geblieben und bis zu ihrer Festnahme im Sommer 1990 nie in die Bundesrepublik gefahren sind, wie kamen dann die Kontrolldaten zustande, die die MfS-Funkabteilung abfangen hat?

Das Bundesinnenministerium weiß von nichts

Das Bundesinnenministerium erklärt, keinerlei Erkenntnisse darüber zu haben, ob sich die in die DDR abgetauchten RAF-Terroristen teilweise in der BRD aufhielten und ob sie dort etwa beobachtet und kontrolliert worden sind. Das BKA verweist auf die Bundesanwaltschaft, die wiederum wörtlich mitteilt: „Es lässt sich derzeit nicht abschließend abschätzen, ob Ihre Anfrage mit vertretbarem Aufwand zu beantworten ist. Ich bitte um Verständnis, dass Sie angesichts des notwendigen Rechercheaufwandes – falls überhaupt – jedenfalls nicht mit einer kurzfristigen Auskunft rechnen können.“ Für eigene Ermittlungen sehen die Strafverfolgungsbehörden offenbar keine Notwendigkeit.

Dabei herrscht unverändert Aufklärungsbedarf. Sämtliche Attentate der 80er-Jahre, die der RAF zugeschrieben werden, sind bis heute ungeklärt: die Ermordung des MTU-Chefs Ernst Zimmermann im Februar 1985, des US-Soldaten Edward Pimental im August 1985, des Siemens-Vorstandsmitglieds Karl Heinz Beckurts und seines Fahrers Eckhard Groppler im Juli 1986, des Ministerialdirektors Gerold von Braunmühl im Oktober 1986, des Chefs der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, im November 1989, und auch das Attentat auf Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder im April 1991. Nicht einmal Namen der möglichen Attentäter wollen die bundesdeutschen Ermittlungsorgane kennen. Könnten die Ausgestiegenen in diese Attentate verwickelt sein?

Inge Viett, am Rande ihres Prozesses wegen Billigung von Straftaten auf die rätselhaften West-Reisedaten im Stasi-Fundus angesprochen, möchte sich dazu nicht äußern. Das interessiere sie nicht, sagt sie. Dagegen stellt sich Silke Maier-Witt offen den Fragen.

Silke Maier-Witt sagt, sie sei nie in der BRD gewesen

Sie sei nie in die BRD gefahren, erklärt sie. Das hätte die Stasi nicht geduldet, weil sie Angst vor Spitzeln in der RAF hatte. Aber auch sie selber hätte befürchtet, möglicherweise nicht mehr in die DDR zurückzukönnen. Vor allem nach der Verhaftung von Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt sei die Stasi nervös geworden und habe den Ausgestiegenen gegenüber Misstrauen gezeigt. Sie hätten alles offenbaren müssen, was sie über die RAF wussten.

Am 15.2.1988 notierte der Führungsoffizier von „Angelika Gerlach“, so der DDR-Name von Silke Maier-Witt: „Maßnahmen zur Realisierung eines Auslandseinsatzes abgeschlossen.“ 1988 habe sie nicht mehr Angelika Gerlach geheißen, so Maier-Witt. Nachdem ein DDR-Bürger sie im Westen auf einem Fahndungsplakat erkannt hatte, was wiederum die Stasi erfuhr, erhielt sie einen anderen Namen. Doch wer war dann diese „Angelika Gerlach“ 1988? Dass sie 45.000 Mark erhielt, bestätigt Maier-Witt. Sie sei in der DDR keiner Arbeit nachgegangen und habe deshalb von der Stasi regelmäßig Geld bekommen. Zu Susanne Albrecht sagt sie, die sei 1989 in der Sowjetunion gewesen und habe also gar nicht in Wackersdorf sein können. Wie allerdings die Bewegungsdaten der bundesdeutschen Polizei, die die Stasi abfing, zustande kamen, könne sie sich nicht erklären.

Silke Maier-Witt macht im Gespräch noch eine bemerkenswerte Unterscheidung. Wie für sich selber schließt sie auch für sieben andere Aussteiger aus, in die BRD gefahren zu sein. Zu Inge Viett und Henning Beer jedoch, betont sie, könne sie nichts sagen. Zu ihnen habe sie keinen Kontakt gehabt.

Regine Igel, die Terrorismus-Forscherin, sagt, ungeklärte Attentate, perfekte Attentate, seien Hinweise auf die Verwicklung von Geheimdiensten. Ihr Buch heißt: „Terrorismus-Lügen. Wie die Stasi im Untergrund agierte“ und ist im Herbig-Verlag erschienen.