: Tropfen – fürs Auge
PASSION Wenn er Parkett legt, macht Markus Reugels etwas Dauerhaftes. Wenn er Tropfen fotografiert, macht er das auch
VON HANNES VOLLMUTH
Ein Tropfen fällt und schlägt einen Krater auf der Oberfläche im Becken. Das Wasser schwappt und ein zweiter Tropfen schlägt auf. Er springt, hüpft, macht sich lang und zerfällt, als ein dritter Tropfen sich löst. Das Wasser schießt nach allen Seiten. Die Kamera klickt. Kein Auge schaut so schnell wie die.
Markus Reugels kniet vor seiner Kamera. Es ist eine für Amateure, das Objektiv dazu ist alt und gebraucht. Auf dem Display sieht er die eingefrorenen Momentminiaturen aus Wasser. Sie schimmern blau. Der 34-Jährige schnauft ein wenig – ein großer Mann mit kurzen Haaren und Armen wie Baumstämme. Er schwitzt. In der Dachkammer, wo er Samstag für Samstag Tropfen fotografiert, ist es heiß.
„L’instant décisif“ – so nannte Henri Cartier-Bresson, der französische Meister des Fotojournalismus, den entscheidenden Augenblick, in dem sich alles fügt. Er jagte ihm wie besessen hinterher. Wie damals, als dieser Mann über eine Pfütze sprang, sein Körper spiegelte sich im Wasser – die perfekte Symmetrie. Cartier-Bresson drückte auf den Auslöser der Leica. Es ist eins seiner bekanntesten Bilder. Was allerdings nicht zu unterschätzen ist: Er sah den Menschen wirklich springen.
Ein halbes Jahrhundert später sitzt Markus Reugels vor dem Wasser und sieht – nichts. Tropfenformationen entstehen und fallen mit solcher Geschwindigkeit wieder zusammen, dass es fürs menschliche Auge unsichtbar bleibt: keine Fontäne, kein Wassergraben, keine Milchsäule und kein Tropfenhut. Nur die Wasseroberfläche kräuselt sich und der Blitz zischt auf. Der Bruchteil einer Sekunde, in dem die Tropfen springen – der hundertsechzigste, wäre man genau – vorbei.
Die Kamera aber friert den unsichtbaren Moment ein. Die Kamera ist Reugels Auge.
Schönheit
Jeden Samstag steigt der schwere Mann nach oben. Die Holztreppe knarrt, die Tür zur Dachkammer schwingt auf, in der Ecke baumeln Kleider, leere Einweckgläser stehen auf einem Regel, an der Decke spannt die Wäscheleine.
Markus Reugels hat einen Eimer mit Wasser dabei. In den schüttet er Spiritus und Guarkernmehl. Mit dem Rührbesen durchpflügt er die Mischung. So verdickt er das Wasser und färbt es ein. Es stinkt ein wenig und Reugels sagt: „Das Zeug ist gut, damit die Tropfen schöne Formen bekommen.“ Er redet jetzt von Tropfgeschwindigkeit, Düsenaustritt, Fallhöhe, Viskosität, Farbe – Milch sei dafür auch gut – und er wartet ein wenig. Schweift ab. Auch mit dem Blick: Vom Fenster aus kann man über die Dächer seines Dorfes schauen – rot, schwarz, braun – manche Giebel neigen sich. Marktsteinach bei Schweinfurt. 750 Menschen.
Zehn Minuten vergehen, zwanzig, dreißig, dann hat das Wasser die ideale Dicke und Reugels die perfekte Position, dann kann es losgehen.
Fotografen gibt es für alles: für Gebäude, Menschen, Mode, Tiere, Gegenstände, Insekten. Reugels hat Klitzekleines und Überschnelles gewählt: Tropfen eben. Und den Moment, wo sie aufschlagen und wieder zusammenfallen. Kein Bild gleicht dem anderen. Reugels sagt: „Jeder Tropfenflug ist ein Unikat.“
Reugels ist damit in der Fotografenszene berühmt geworden. Das Magazin View hat seine Tropfen gedruckt, der britische Telegraph und China Daily. Eine Zeitung titelte: „Out of this world“, nicht von dieser Welt. Seine Bilder hängen in Büros, in Kundenetagen, überall dort, wo das Abstrakte auch real sein soll. In Schanghai zum Beispiel, 9.000 Kilometer entfernt, zwei mal zwei Meter groß, im Büro eines Fernsehsenders.
Selbst über den Wolken sind seine Bilder zu sehen: Im Kundenmagazin der American Airlines schimmerte sein giftgrüner Wasserpilz. Und für CHIP Foto-Video war er „Fotograf des Monats“, vor einem Jahr. Zuletzt hob das spanische Magazin Fotografe Melhor seine Tropfenbilder auf das Cover. „Arte em Gotas“, Tropfenkunst, stand daneben. Ein Reugels-Tropfen vorne drauf und noch mal zehn Seiten im Heft. Seine Finger gleiten über das glänzende Papier, kein Wort versteht er. Reugels – ein Star.
Doch hinter dem Erfolg verschwindet ein anderer, ein Bodenständiger. Einer, der Parkette verlegt. Von Montag bis Freitag robbt Reugels über Böden, bückt sich, streckt sich aus und legt die Hölzer, eines nach dem anderen, wie ein großes Mosaik. Er hat Geduld, auch wenn es oft schnell gehen muss. Für die schwierigen Fälle rufen sie ihn. Für eine Fertigparkettdiele, die er wechseln soll, mitten im Boden ein Holz rausschlagen, Untergrund sauber machen, Brett wieder einpassen, Diele abschleifen und versiegeln. Parkettlegen ist sein Beruf.
Reugels sagt: „Damit es gut ausschaut, braucht man Geduld.“ Er hat sie. Bei allem.
Erst vier Jahre ist es her, da bestellte er die erste Kamera, eine Spiegelreflex sollte es sein. Reugels Frau war hochschwanger. Kinderbilder, Familienalbum, Reugels wollte, was jeder Vater will. Stolz sein. Seine Sachen anderen zeigen. Im Netz zum Beispiel. Dort stieß er das erste Mal auch auf die Tropfen.
Die Tropfen waren schön. Die Bilder aus dem Internet klickte er am Bildschirm hin und her. Reugels sagt: „Das hat mir einfach gefallen.“ Er ging in die Küche. Mit einem Pappbecher voller Wasser und einem Zahnstocher fing er an zu experimentieren. Und machte geduldig weiter. Auch sein Parkett verlegt er so.
Vier Jahre später und 36.000 Bilder weiter steht Markus Reugels wieder oben in der Dachkammer, wo alles begann. Sein Daumen hämmert auf den Auslöser, ein kurzer Blitz, ein kurzes Blubb im flachen Becken, dann leuchtet das Display.
Er weiß jetzt, wie viele Tropfen fallen müssen für welchen Effekt: zehn pro Sekunde für die Pilzform, fünfzehn für den tiefgezogenen Hut. Er kann das beeinflussen. Er weiß, wie die Form eines Lampenschirms entsteht, wie die Blitze leuchten müssen, damit das Wasser glüht. Auch eine neue Form hat Reugels geschaffen. Seine Tropfen springen jetzt zwanzig, dreißig, vierzig Zentimeter aus dem Wasser – Megasäulen, das gab es vorher noch nie.
Perfektion
Reugels arbeitet gegen das Chaos an, denn Chaos mag er nicht. Er sagt: „Die Ruhe im Tropfen, das will ich sehen.“ Aber eigentlich sei, was rauskommt, immer eine Wundertüte. „Kein Shooting ist wie das andere.“ Nahezu unbemerkt hat sich das Wort „Shooting“ in seinen Wortschatz geschlichen.
Wer zweifelnd vor seinen Bildern steht, dem sagt er: „Keine Montage, die Bilder sind echt.“ Auf seiner Internetseite hat er alles notiert, alle Tipps, alle Tricks. Dem Handwerker Reugels ist das sehr wichtig.
Reugels sagt: „Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, da kann man viel interpretieren.“ Mittlerweile klickt er durch seine Bilder und entdeckt immer etwas Neues. In seinen Tropfenformationen sieht er jetzt Figuren, hier einen Hund, dort eine Ente. Eines seiner Lieblingsbilder hat er „Alien“ getauft: Es ist ein Tropfen mit Tentakeln, er schwebt über dem Wasser.
An das Fenster in der Dachkammer prasselt jetzt Regen. Reugels hockt da, geduldig, konzentriert – ein Jäger in seinem Hochstand.
Reugels liebt sein Hobby, vielleicht mehr als die Fotoprofis ihren Beruf. „Ein Profi kommt gar nicht so weit“, sagt er. Der Druck, die Vorgaben, das gefährde immer den Spaß. Als das Display wieder leuchtet, sagt er: „Diese Form hatte ich noch nie.“
Er lässt die Tropfen fallen, wie er auch das Parkett verlegt: Blick nach unten. Wenn etwas schief läuft, beginnt er von vorne. So sehen Samstage aus.