berliner szenen: Patricia und die alte Stadt
Am Mittwoch steht ein Geschichtstest an. Der Siebtklässler hat nach sechs Jahren lascher Berliner Grundschule noch nicht gänzlich realisiert, dass am Gymnasium plötzlich Leistung gefordert wird. Immerhin hat er mich von dem Test in Kenntnis gesetzt. Mehr passiert nicht. Mehrmals thematisiere ich am Wochenende pädagogisch, aber unaufdringlich (Stufe 1), dass selbstverantwortliche Vorbereitung angesagt ist. Vergebens. Am Montag folgt Stufe 2, die direkte Aufforderung, sich genau jetzt den Stoff anzusehen. Der 13-Jährige verschwindet in seinem Zimmer und erklärt eine Stunde später: „Hab ich mir jetzt angeschaut.“ Überprüfung ist kaum möglich, aber ich kenne mein Kind und habe kein gutes Gefühl.
Am Dienstag biete ich meine Hilfe an. „Hab schon was vorbereitet“, sagt er gelangweilt. Auf seinem Bett liegt ein Stapel zerknickter Arbeitsblätter zum Thema Mittelalter. Ich lasse mir einen Text vorlesen und kläre die Fremdwörter. Ohne die lässt sich der Inhalt kaum erfassen. Dann gehen wir die Arbeitsblätter durch. Unterschiede zwischen Dorf und Stadt, Burg und Kloster. Die Rubrik „Dorf“ ist gut gefüllt. „Ja, da war ich in der Arbeitsgruppe, deshalb“, klärt er mich auf. In den anderen Rubriken stehen lediglich Stichwörter. Leider gibt es auch kein Schulbuch.
Am meisten verblüfft mich aber, wie die Siebtklässler neue Begriffe lernen. „Patricia“ steht als einziges Wort in der Rubrik „Stadt“. „Wer ist das denn?“, frage ich, innerlich grinsend. „Die handeln da“, erklärt das Kind.
Zu meiner Schulzeit, quasi im Mittelalter, hatten wir Bücher, in denen man nachlesen konnte, was man im Unterricht versäumt hatte. Heute bleibt dank moderner Arbeitsblätterflut bei meinem Sohn von der mittelalterlichen Stadt nur eine im Gedächtnis: Patricia.
Gaby Coldewey
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