: Große Freiheit und kleine Freiheiten
Arbeit, Armut und Aufbruch: Das Stader Kunsthaus zeigt Fotografien aus Hamburg-St. Pauli und -Altona von Herbert Dombrowski, Germin und Anders Petersen
Von Frank Keil
Es ist ein guter, ruhiger Anfang. Die erste Etage im Stader Kunsthaus ist mit den Arbeiten des Fotografen Herbert Dombrowski gefüllt. Ein sehr schüchterner Mann muss er gewesen sein, sooft, wie uns seine Protagonisten auf den Fotos ihre Rücken zuwenden. Autodidakt war Dombrowski, 1917 geboren, der am Ende seines Lebens gut 10.000 Negative hinterlassen hat.
Anfangs hatte Dombrowski ein kleines Studio und Labor in Hamburg-Eppendorf, das als Stadtteil damals noch sogenannte normale Leute beherbergte. Er arbeitete für ein örtliches Möbelhaus, für die Friseurinnung, wechselte dann die Szenerie, wurde Strandfotograf in Timmendorf an der Ostsee. „Er brauchte den Job, aber es muss ihn große Überwindung gekostet haben, die Menschen anzusprechen, ob sie ein Foto von sich haben möchten, für das sie dann ja bezahlen sollten“, sagt Kuratorin Regina Wetjen. Was zu seiner offenbar zurückhaltenden Art auch passt: Er fotografiert jedes Motiv nur einmal, versucht den einen, sozusagen wahren Moment zu finden und zugleich festzuhalten.
Einen entscheidenden Schub bekam Dombrowskis Fotografie, aber auch seine berufliche Karriere, als zu Beginn der 1950er-Jahre die gewerkschaftseigene Baugenossenschaft Neue Heimat im Sog des Wiederaufbaus ihren damals rasanten Aufstieg begann, den sie entsprechend dokumentiert wissen wollte. Dombrowski lichtete den noch erhaltenen Altbaubestand systematisch ab, wanderte dazu durch die noch winkeligen und baumlosen Straßen, schaute auf ewiggraue Terrassenhäuser, bevor an ihrer Stelle quadratisch-praktische Wohnblocks mit dazu passenden Grünflächen erbaut wurden.
Die Arbeiterklasse posiert
Und Dombrowski schaute links und rechts des Weges, lichtete ab, wie die Kinder mit nichts in der Hand auf der Straße spielen, wie die Hausfrauen auf dem Fischmarkt erst ihr Geld zählen, bevor sie etwas am Stand kaufen. Er dokumentiert so in seiner Serie „Licht über Altona“ letzte Momente einer Arbeitswelt, die auf dem Weg vom Alten zum Neuen ist: Pkws gibt es kaum zu sehen, die Autostadt Hamburg ist noch im puren Planungszustand. Werbetafeln sucht man vergeblich, erste Geschäfte werden erst eingerichtet. Und immer tritt der Fotograf einen Schritt zurück, hält sich im Hintergrund, scheint heimlich auf den Auslöser zu drücken, offenbar froh, ein Bild gewonnen zu haben. Und sehr selten schaut jemand von den damals Abgebildeten zurück.
Das ist bei dem Fotografen, der auf die Dombrowski-Etage folgt, zunächst sehr anders: Als junger Mann war Gerd Mingram, der aus Vor- und Nachnamen für sich den Künstlernamen „Germin“ kreiert hat und als Schriftsetzer begann, zunächst Mitglied der Kommunistischen Jugend; zu Beginn des Jahres 1933 wurde er mit Berufsverbot belegt. Später kam er an die Ostfront, fotografierte dort heimlich weiter. Den Krieg überlebte er und kehrte nach Hamburg zurück, wo er seine Dokumentation der Arbeiterkultur fortsetzte, allerdings nun sozialdemokratisch gemildert.
Denn Germins Auftraggeber waren zum einen die klassischen DGB-Gewerkschaften, für die der einstige Klassenkampf nur noch als Folklore diente. Er fotografierte aber auch für traditionelle Unternehmen und besonders für die städtischen Hamburger Wasserwerke. Und er ging dazu an die Arbeitsplätze der Menschen.
Germins Fotos sind Dokumente eines entbehrungsreichen Lebens, wie einem spätestens auffällt, wenn man entdeckt, wie oft die ärmlich gekleideten Arbeiter Bündel von Restholz auf dem Weg nach Hause mit sich schleppen, um wenigstens Geld für Kohlen zu sparen. Es sind aber auch immer Bilder, die vom Willen des Vorwärtskommens erzählen und auch erzählen sollen – so wie die Hafenarbeiter auf sein Geheiß hin kurz innezuhalten scheinen, bevor sie eine der Pendelfähren betreten, die sie über die Elbe bringen wird; wie sie lässig Fischernetze stopfen oder Stückgut in die Höhe bugsieren, in der Regel lässig rauchend. Wie sie sich positionieren, doch ohne je zu posen.
Es ist nicht mehr die kämpferische Arbeiterklasse, die Germin fotografisch begleitet, sondern die Arbeiterschaft, die in der Mitte der Gesellschaft, die sie längst nicht mehr umstürzen will, ankommen möchte. Wozu passt, dass Germin, wie kurz zuvor der sieben Jahre jüngere Dombrowski, bei den allermeisten fotografischen Begegnungen mit seinen Protagonisten draußen vor der Tür stehen bleibt.
Bei Germin ist wie bei Dombrowski noch die Arbeit das ganze Leben, es ist ihr Kapital. Und das, was es außerhalb der Arbeit und der Tarifverträge gegeben haben mag an eigenem Vergnügen, an Abseitigem vielleicht, an eben Privatem, wird noch nicht als wert genug für den Rollfilm empfunden. Es sei denn, es schleicht sich Dombrowski in eine Striptease-Bar, wo er mit der Kamera heimlich einer Frau beim Ausziehen folgt, während die Männer im Hintergrund sich unbeteiligt zu geben versuchen – ein Dokument verborgener Schaulust.
Und dann steht man im obersten und letzten Stockwerk des Stader Kunsthauses und betritt eine ganz andere Welt und auch eine ganz andere Zeit. Denn man wird schier umzingelt von den Momentaufnahmen und Porträts, die der damals knapp 20-jährige schwedische Fotograf Anders Petersen im Café Lehmitz am Heumarkt eingefangen hat (nicht zu verwechseln mit dem Lokal Lehmitz später mitten auf der Reeperbahn); eng fotografiert in den Jahren 1968 bis 1970.
Gewiss: Große Teile des Lehmitz-Zyklus waren bereits im vergangenen Jahr in der Hamburger Freelens-Galerie am Großneumarkt zu sehen (auch einst so ein wildes, heute aber gezähmtes Wohnviertel, in dem etwa der Uwe-Timm-Klassiker „Die Entdeckung der Currywurst“ angesiedelt ist). Doch Anders Petersens Grundwerk mal nicht als Soloshow mit Kultambiente, sondern in der Begegnung, im Abgleich und vor allem in der Konfrontation mit Dombrowski und Germin – also den alten, heute gesetzt wirkenden Herren der Arbeiterfotografie – fotografisch zu schauen, das ist noch mal ein ganz eigenes Erlebnis.
Denn wo Germin und Dombrowski auf ihre dann doch verwandte Art den Arbeiter und seine stoische Arbeitskraft ins helle Licht der Akzeptanz stellen wollen, pfeift Petersen genau darauf. Er zeigt die Menschen, wie sie feiern, knutschen, trinken, rauchen, wie sie sich streiten und wie sie sich Halt zu geben versuchen – das Leben, zumindest jenes, für das sich die Menschen im Lehmitz im Moment entschieden haben. Petersen, der Auswärtige, der Fremde, der kommt und wieder geht, der beständig zwischen Hamburg und Stockholm pendelt, bleibt ihnen treu und die Menschen öffnen sich ihm, auf Langstrecke sozusagen.
Das Leben im Fokus
Und der Tag geht in die Nacht über und die Nacht in den Tag, und ob da nun jemand ein Mann oder eine Frau ist oder sein möchte – allein für ihn oder sie ist das wichtig, wenn es überhaupt von Bedeutung ist, die Flasche Bier in der Hand. Und man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die Herren von der Gewerkschaft hier weder etwas zu sagen gehabt hätten noch dass sie verstanden hätten, was hier im Café Lehmitz eigentlich los war.
Was die Leute gearbeitet haben, ob sie Kinder hatten, ob eine Familie auf sie wartete, wo sie sonst wohnten und wie es in ihren Wohnungen ausschaute: Petersen lässt das nicht nur bildgestalterisch außen vor, indem er es weglässt. Und so wie Dombrowski und Germin später folgerichtig erst bei der Magazin- und dann bei der Werbefotografie gelandet sind, hatte Petersen zeitlebens nur einen Auftraggeber, dem er sich allerdings umso mehr verpflichtet fühlt: sich selbst.
Bis heute ist Anders Petersen, der später langfristige und immer subjektiv geerdete Fotoprojekte in Psychiatrien, Gefängnissen oder Pflegeheimen realisiert hat, entsprechend bei keiner Agentur unter Vertrag. Petersen wird von keiner Galerie vertreten, sondern hält die Rechte an seinen Bildern allein in seiner Hand; leiht aus, was er im Moment der Anfrage eben ausleihen möchte.
Dass er dem Stader Kunsthaus für die Ausstellung ganz unkompliziert Auszüge aus seinem Lehmitz-Kosmos zur Verfügung gestellt hat; dass man so einen ganz eigenen und zugleich auch unsentimentalen Blick auf die gewesene Wirklichkeit im Lehmitz bewahren kann: Das ist schlicht ein großes Geschenk.
Bis 5. Mai, Kunsthaus Stade
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