: Die kleinen Gespenstinnen
Die dicken Kinder von heute lesen morgen dicke Bücher und retten übermorgen den Planeten: In seinem plot- und figurenreichen Roman „Für immer in Honig“ nimmt sich Dietmar Dath unter anderem derjenigen an, die als neue Unterschichten verteufelt werden – und gibt ihnen die Würde zurück
von KERSTIN GRETHER
Wenn schon ganz normale Romanciers immer dickere Bücher schreiben, dann wird der genialische FAZ-Querdenker Dietmar Dath, der ja Literat und Kulturtheorie-Journalist in einem ist, die tausend Seiten auch mal voll machen dürfen. Jedenfalls fast. Schon okay also, dass „Für immer in Honig“ ein Durchhalteroman geworden ist, zumal der 35-jährige Kultautor in seiner Nachbemerkung betont, dass in diesem Buch „vollständig steht, was im Rückblick auf alles, was ich seit 1994 gearbeitet habe, zu sämtlichen Dingen zu sagen war.“ Wow!
Wer den Dath’schen Themenfluss kennt und schätzt, weiß, dass das ja nicht wenig ist. Und sieht es als milde aufmunternde Geste, dass auch der Beipackzettel betont, dieses Buch wolle uns gar nicht groß die Zeit stehlen, sondern nur mal rasch mit „neuen originellen Ansichten“ und „seltenen Informationen“ ausstatten – auf dass wir danach umso cooler mitreden können, wenn’s um all die hybriden heiligen Sachen geht wie „Sciencefiction, Zombies, Hillary Clinton, Wölfe, die Schulden der Dritten Welt“. Denn der nimmermüde Vielschreiber weiß ja auch, dass er mehrdimensionale Texte schreibt, während auf Journalistenschulen immer noch die eine These pro Artikel gepredigt wird, von den Schreibschulen ganz zu schweigen, die Kunsthandwerk fördern. Deshalb ist es gut, den Leuten den Kick, die schnelle Kombinationsgabe nicht nur zu versprechen, sondern auch als Haltung zu empfehlen.
Trotzdem vermisst man ein ordnendes Inhaltsverzeichnis, das einem gleich mal einen Überblick über das unübersichtliche Geschehen geben würde, erfreut sich am maßlosen Personenverzeichnis (89 Leute), macht sich dann endlich dran, das Buch zu lesen, draußen im Park natürlich, damit auch für sinnliche Eindrücke gesorgt ist – und merkt dann, dass die ganze vorbereitende Panik umsonst war.
Hey, das sind ja richtig tolle, poetisch funkelnde Geschichten aus dem echten Leben, die der Dath hier schreibt. Und man kann gleich nicht mehr aufhören zu lesen, wie Kunstbuchlektorin Beate Eich, teuer angezogen und verarmt, den Buchhändler, der fast noch unstimmiger schön ist als sie selbst, kennen lernt. „ ‚Scheiße, ich hatte sogar ein Tigerfell vor dem Sofa. Wahnsinn‘, flüsterte sie und lächelte, weil ihr gefiel, dass nichts davon geblieben war. Je vergänglicher der Reichtum, desto reicher fühlt er sich im Rückblick an. Wann werden wir frei sein?“ Damit ist sogleich das schwankende Spektrum seiner Personen abgesteckt, die sind alle mal arm, mal reich, mal gleich gewesen, irgendwie seltsam unabgesichert. Als müssten Daths meist junge Protagonisten, die aus der alltäglichen Angestelltenwelt ebenso kommen wie aus abgehobenen Agenten- und Alien-Schichten, als müssten all diese vermeintlich Zukunftsfernen immer wieder neu eine Zukunft ansteuern. Für sie bereitet Daths zwischen Proll und Proff schwankender Tonfall die nötige Einfühlung. Vielleicht ist das aber auch alles gar nicht seltsam, sondern normal, dass Literatur entstehen kann, wenn Sätze und Wörter aus vielen verschiedenen Welten zusammenfinden.
Man fühlt, dass es hier um Geschichten von Ohnmacht geht, möglichst ohnmachtsfrei und heiter erzählt. Und man kapiert jetzt, dass dieser Durchhalteroman absichtlich eine riskante Form gewählt hat. Er will das Gefühl von Ohnmacht, von dem er die ganze Zeit handelt, im Leser selber an- und ausknipsen. „Valerie Thiel war eine schöne Jugend in kargen Zeiten und wollte auch nichts weiter sein …Valeries Mutter war tot, lief aber noch rum.“ Der Unterschied zwischen Untoten und Lebenden verwischt. Eine Zeitdiagnose? Die Protagonisten in „Für immer in Honig“ sind auf jeden Fall nachhaltig aufgeklärt über ihre Lebens- und Konsumbedingungen und zugleich davon „verhext“, nihilistisch und immer auf dem Sprung, das schnelle Glück des nächsten Augenblicks zu feiern. Nicht weit entfernt von der Ausstrahlung, die das Feuilleton in den letzten Monaten den neuen „Unterschichten“ bescheinigte. Daths wankelmütige, aufeinander einhackende, kleine, großäugige „Gespenstinnen“, Wissenschaftler und Junkfood-Opfer kommen weder in ihren Beziehungen noch in ihren Gesellschaften zum Ruhen. Sie sind die dicken Kinder von heute, die morgen dicke Bücher verstehen sollen, um übermorgen den Planeten zu retten. Nie hat der ehemalige Spex-Chefredakteur so detailliert seine und die Jugend von heute beschrieben. Daths Jugend lebt die „Kunst des stilvollen Verarmens“ bereits. So, dass man sich fast schämt für die Generation der über-30-jährigen Bildungsbürger, die einen höhnischen Sicherheitsabstand wahrt, wenn sie diese Pink hörenden, Rüschenjeans tragenden, kleinen Gespenstinnen jetzt auch noch ernst nehmen soll. Und vor lauter Ecken-und-Kurven-Angst all die Knackpunkte nicht wahrnehmen will, die die Dath’sche Geisterbahn aus kollabierenden Familien nebst klapsmühlenhafter Wirtschaftslage bevölkern. Natürlich muss sich der Metal-Fan Dath daher auch nicht künstlich vom ach so toten Pop-Roman absetzen. Der ja umso heftiger totgeredet wird, je mehr er gebraucht würde. Weshalb es besonders erfrischend ist, wie der Autor diesen postoptimistischen Casting-Kultur-Opfern ein bisschen Würde zurückgibt, indem er ihre Spiele und Codes, von Sex bis Revolutionsfantasien, liebevoll ernst nimmt. Und dabei auch noch die Boheme- und Kunstlichterwelt seiner Generation fortschreibt.
Wer glaubt, dass Dath hier noch mal den universellen Pynchon-Postmodernen raushängen lassen oder gar den ersten Bildungsroman des 21. Jahrhunderts schreiben wollte, unterstellt zu viel Kalkül. Dath hat einfach viel zu sagen, und er sagt es. Er hat die Zukunft des Rock ’n’ Roll im Menschen selber gesehen. Oder wie es der Berliner Songwriter Jens Friebe neulich zu Protokoll gab: „Dietmar Dath ist der letzte manische Aufklärer Deutschlands.“
Dietmar Dath, „Für immer in Honig“. Implex-Verlag, Berlin 2005, 971 Seiten, 36 €