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Anleitung zur Selbsterziehung

Die Anthroposophie gilt als schwieriges Gedankengebäude. Aber es gibt auch einen bodenständigen Zugang: aus dem Alltag heraus, durch eine Überprüfung der eigenen Lebenshaltungen. Das funktioniert auch heute noch

Eine selbst­bewusste Ich-Entwicklung müsse die Menschen aus alten Bindungen heraustreiben, so Steiner. Unheilvoll werde dieser Prozess erst, wenn er keinen Gegenpol finde: in einem neuen sozialen Impuls Foto: Stefan Kiefer/imageBROKER/picture alliance

Von Wolfgang Müller

Einsichten in das tiefere Wesen des Menschen und dessen Zusammenhang mit kosmischen Kräften, ein Wissen um „Ätherleib“, „Astralleib“ und „Geistselbst“ – ist das Anthroposophie? Ja und nein. Tatsächlich versuche die Anthroposophie, so ihr Gründer Rudolf Steiner (1861 bis 1925), „hinter die Kulissen des Daseins zu schauen“. Zugleich aber wandte er sich scharf gegen die Vorstellung, sie biete eine Art „Lehrgut“, Lernstoff für Esoteriker. Viel wichtiger sei die Arbeit an der eigenen „Seelenverfassung“.

Was Steiner dabei im Blick hat, kann gelegentlich recht schlicht wirken. So nennt er als erstes Ziel häufig ein „sachgemäßes“ Denken. Etwas Selbstverständliches, möchte man sagen. Aber so selbstverständlich nicht, wenn man sich die menschlichen Realitäten vergegenwärtigt. Denn: Wie verbreitet ist tatsächlich der Wille, die Dinge der Welt in Ruhe und umfassend zu verstehen? Geschieht nicht viel häufiger das Gegenteil: dass von einem großen Geflecht ein Faden herausgezogen und zur Wahrheit erklärt wird? Was er auch sein mag, nur eben eine „Viertelwahrheit“, wie Steiner es nennt. Und wie groß ist tatsächlich die Bereitschaft, die eigenen Anschauungen zu prüfen und zu erneuern? Die meisten Menschen würden, so Steiner trocken, „nicht älter als kaum 27 Jahre“, dann trotteten sie mit ihrer bisherigen Persönlichkeit weiter. Stattdessen gelte es, „ein verwandlungsfähiger Mensch“ zu bleiben. Wozu nichts so sehr erzieht wie die Offenheit für das, was noch nicht zum Katalog der eigenen Meinungen gehört, ein waches Hinschauen, ein sorgfältiges Denken, kurz: eine Grundhaltung der „Sachgemäßheit“.

Die ist so gesehen alles andere als selbstverständlich. Sie ist etwas Seltenes. Und sie ist im Alltag zwischen Menschen oft schwer durchzuhalten. Denn in einer Welt der schnellen Urteile sind die meisten nicht sonderlich geneigt, sozusagen weitere Viertel der Wahrheit zur Kenntnis zu nehmen. Fast könnte man meinen, Steiner habe schon die Welt der Talkshows und Internet-Foren vor Augen gehabt: „Jeder schreit dem anderen etwas in die Ohren und sagt dann, das ist mein Standpunkt.“ Es sei „jammervoll, wie die Menschen eigentlich im Leben aneinander vorbeigehen“. Heute könnte man ergänzen: Es ist eine Verbindungslosigkeit bei gleichzeitiger Dauerkommunikation. Beides hängt wohl zusammen.

Warum aber ist es so? Vermutlich lebten die Menschen früherer Epochen trotz aller Härte des Daseins noch in engeren, gewachsenen Verbindungen. Erst die Neuzeit mit ihrem Verlangen nach Freiheit und Individualisierung schuf die neue Lage. Steiner hielt das für einen notwendigen Prozess. Eine selbstbewusste Ich-Entwicklung müsse die Menschen aus alten Bindungen heraustreiben. Unheilvoll werde dieser Prozess erst, wenn er keinen Gegenpol finde: in einem neuen sozialen Impuls. Das Gespür für diese Notwendigkeit ist der epochale Hintergrund der sozialistischen Bewegungen.

Als habe Steiner schon die Welt der Talkshows vor Augen gehabt

Nur, so Steiners Kritik, seien deren Konzepte, trotz aller radikalen Rhetorik, im Denken des 19. Jahrhunderts gefangen: zentralistisch, wo es gelte, die Dinge „von verschiedenen Mittelpunkten her“ zu gestalten; und materialistisch, wo es darauf ankomme, den Menschen umfassend zu begreifen, nicht nur als physisches, sondern auch als seelisch-geistiges Wesen. Gerade dieser Punkt kann heute leicht missverstanden werden. Denn was wie eine Allerweltsweisheit klingt, ist, wenn es konkrete Erkenntnis werden soll, eine große philosophische und persönliche Aufgabe. Es ist aber die eigentliche Voraussetzung für ein neues Verständnis zwischen Menschen, für die „Möglichkeit, in den andern Menschen hinüberzuschauen“. Dieses Hinüberschauen ist, neben der individuellen Sachbezogenheit, quasi die soziale Achse der Selbsterziehung. Und auch hier sieht Steiner den Schlüssel darin, sich weit zu öffnen, auch Unvertrautes an sich heranzulassen, so als ob die eigene Haut „von allen Seiten durchlässig“ werde. Inklusive kleiner Schikanen: „Die besten Übungen kann man an Menschen machen, vor denen man einen Abscheu hat.“

Zu verstehen ist all dies nicht als biederes Seid-nett-zueinander, sondern als ernsthafte, interessierte Annäherung an das, was der andere Mensch wirklich ist, nicht in seiner äußeren Lebenskonfiguration, sondern in seinem Wesen: „Man kann im anderen Menschen den Menschen nicht finden, wenn man ihn nicht auf geistige Weise zu suchen versteht.“ An dieser Stelle kann dann auch die Frage auftauchen, was diese „geistigen“ Wirklichkeiten denn seien, die Steiner in so fremdartige Begriffe fasst („Ätherleib“ usw.), die weit von den heute gängigen psychologischen Kategorien abweichen. Und es kann neben dem spirituellen ein überraschend politischer Denker in den Blick kommen, der jahrelang Vorträge darüber hielt, wie es denn möglich sei, die soziale Welt „von verschiedenen Mittelpunkten her“ zu ordnen. Seine Antwort: durch eine „Dreigliederung“ mit möglichst großer Unabhängigkeit von politischer, wirtschaftlicher und geistiger Sphäre, die heute ungut verfilzt sind.

Von dieser Seite betrachtet, sieht die Anthroposophie dann doch wieder mehr nach „Lehrgut“ als nach Selbsterziehung aus. Steiner aber blieb bei seinen Prioritäten: „Was diese Geisteswissenschaft aus unserer Seele macht, das ist viel notwendiger als das abstrakte Sichbekanntmachen mit der einen oder mit der anderen Wahrheit.“