: Tür an Tür mit der Geschichte
MORBIDE FASZINATION Am Bogensee in Brandenburg hatte Propagandaminister Joseph Goebbels sein Waldhaus. Zu DDR-Zeiten stand nebenan eine FDJ-Schule. Heute kümmert sich nur noch Roberto Müller um das Gelände
■ Der Fotoband: „Rote Stühle. Das Gelände am Bodensee“ von Jana Dimmey und Katrin Matthes ist soeben im Kehrer Verlag erschienen. Es zeigt in 59 Farbabbildungen auf 108 Seiten den morbiden Charme des Areals. Es kostet 24,95 Euro.
■ Ausstellung: Am Freitag, den 23. Oktober, um 19 Uhr wird eine Fotoausstellung zum Buch im Showroom 25 books, Brunnenstraße 152, Berlin-Mitte, eröffnet.
■ Das Textbuch: „Goebbels’ Waldhof am Bogensee. Vom Liebesnest zur DDR-Propagandastätte“ von Stefan Berkholz ist bereits im Jahr 2006 im Ch. Links Verlag erschienen und kostet 29,90 Euro.
VON OLE SCHULZ
Roberto Müller hat im Kaminzimmer eigens für den Besuch aus Berlin einen kleinen Tisch mit Blümchendecke und einer Vase dekoriert. „Hierhin hat sich Goebbels zurückgezogen, um nachzudenken und zu schreiben“, sagt der Hausmeister und nickt kurz mit dem Kopf in Richtung des spärlich möblierten Raums.
Joseph Goebbels hat sich hier entspannt – und an dem Konzept des „totalen Krieges“ gefeilt. „Es ist ganz still und ruhig hier“, notiert der Reichspropagandaminister im November 1936 in sein Tagebuch. „Ich arbeite, lese, schreibe und bin glücklich. Rings um mich Wald, welkes Laub, Nebel, Regen. Ein Idyll in der Einsamkeit.“
Zwei Monate vorher war dem „Eroberer Berlins“ für seine Verdienste eine Jagdhütte in einem städtischen Forst vermacht worden. 40 Kilometer nördlich von Berlin, versteckt in einem Waldstück bei Lanke nahe Wandlitz, wurde daraus das geräumige „Waldhaus am Bogensee“. Goebbels war begeistert: „Herrliches Herbstwetter! Der Wald duftet so herrlich.“ Dann heißt es: „Diese Judenpest muss ausradiert werden. Ganz und gar. Davon darf nichts übrig bleiben. Sonst Palaver, Lektüre, Schreiben. Zeitig ins Bett. Es schläft sich so herrlich hier draußen im Walde.“
Richtig vorstellen, wie Goebbels damals solche Sätze niedergeschrieben hat, bevor er in seinem „Liebesnest“ Schauspielerinnen empfing, kann man sich heute kaum noch. „Aus dieser Zeit erhalten sind lediglich die Holztäfelung in den Räumen und die Keramikausstattung des Bades“, sagt Roberto Müller. Die Edelchrom-Badearmaturen seien immerhin noch voll funktionsfähig. Der 48-Jährige ist der Einzige, der noch regelmäßig Goebbels’ einstigen Landsitz betritt. Ganz allein führt Müller als Hausmeister tagtäglich einen Windmühlenkampf gegen Vandalismus und Verfall.
Seit einem Jahrzehnt steht das „Waldhaus am Bogensee“ bereits leer. Auch aus dem angrenzenden Gebäudeensemble der ehemaligen FDJ-Jugendhochschule „Wilhelm Pieck“ zogen die letzten Nutzer im Jahre 1999 aus. Seither erobert sich die Natur das Gelände zurück.
Hier tobte das Leben
Roberto Müller kann darüber nur den Kopf schütteln. Denn bis zur Wende „tobte hier das Leben“, erinnert er sich. Er selbst war 1984 an den Bogensee gekommen. Zuvor hatte er im VEB Automobilwerk Eisenach gearbeitet Doch die Umstellung auf das Dreischichtensystem hatte er nicht mitmachen wollen. Fortan kümmerte er sich in der FDJ-Schule um die Wartung der modernen Heizungsanlage. Dass er kein SED-Mitglied war, habe keine Rolle gespielt, erzählt Müller. „Gefragt haben sie mich aber schon.“
Rückblickend seien die Jahre vor dem Mauerfall die „schönste Zeit“ seines Lebens gewesen. „Menschen aus aller Herren Länder, die freundschaftlich miteinander lebten“, ein Leben fast wie im Urlaub, „obwohl wir gearbeitet haben.“ Man stand per du, auch mit den großen Bossen aus der Direktion und dem Kaderwesen. „Wir haben ja Tür an Tür mit denen gewohnt.“
In Goebbels’ Landhaus waren ein Konsumladen, ein Friseur und eine Kinderkrippe einzogen. Die FDJ-Jugendschule war nebenan auf einem neoklassizistisch anmutenden Campusgelände angelegt worden: vier T-förmige Wohngebäude an den Längsseiten, im Süden das Kulturhaus mit Mensa, von Kolonnaden gesäumt, und im Norden das prunkvolle „Lektionsgebäude“, wo hinter einem stolzem Portal Seminarräume und die Verwaltung untergebracht waren. Dazwischen liegt eine großzügige, mittlerweile zugewucherte Grünanlage.
Dass das Gebäudeensemble am Ende zu einer Schlosskopie im Stile eines sozialistischen Neobarocks wurde, hat nicht zuletzt Walter Ulbricht verschuldet. Als dem SED-Generalsekretär im Politbüro die Pläne vorgelegt wurden, soll er beinahe die Beherrschung verloren haben. Die ursprüngliche Planung orientierte sich an der vorhandenen Bebauung und wollte sich in die Landschaft einfügen, doch Ulbricht wollte ein Denkmal des Sozialismus. In den Entwurf zeichnete er mit Rotstift flugs griechische Tempel mit ionischen Säulen.
Vom Stalinallee-Architekten Helmut Henselmann entworfen, eingerichtet von der DDR-Designer-Legende Hans Bogatzky kann man dem Gelände einen eigentümlichen, wenn auch protzigen Charme nicht absprechen. „Architektonisch lecker gemacht“, findet auch Müller die Anlage, von der Bauausführung her „erste Qualität“. Es entstand eine von der Außenwelt abgeschottete Ministadt mit eigenem Heizwerk, Trafostation und einer Kläranlage.
PLO und Sandinistas
Ab Mitte der 50er-Jahre lernten hier jährlich rund 500 Nachwuchskader, „aus allen Ländern, in denen es kommunistische Jugendorganisationen gab“, erzählt Müller. PLO-Kämpfer trafen auf nicaraguanische Sandinistas und westdeutsche, unter Decknamen eingeschriebene Studenten. Waren die einjährigen Kurse vorbei, dann gab es „viele Tränen“, sagt Müller und lacht. Viele Liebschaften und darum auch viele Tränen. Wer über das Gelände laufe, könne an den Bäumen immer noch Herzen und Namen finden, die damals eingeritzt worden seien.
Nach der Wende fiel das Gelände dem Berliner Liegenschaftsfonds zu, der es zunächst an das Internationale Bildungscentrum (IBC) vermietete. Weil die Energiekosten für das rund 150.000 Quadratmeter große Areal auf Dauer nicht tragbar waren, zog das IBC 1999 aus. Seither sucht der Fonds vergeblich einen Käufer. Ein für dieses Jahr vorgesehenes Bieterverfahren wurde im Juni vorläufig auf Eis gelegt.
So verfallen die Gebäude am Bogensee zusehends. Bis 2006 wurden sie noch beheizt, weil hier einmal im Jahr Hochbetrieb herrschte, trotz des sonstigen Leerstands: Zum 1. Mai waren Polizeieinheiten aus dem Bundesgebiet auf dem Gelände untergebracht, um bei Bedarf in der Hauptstadt gegen Randalierer vorzugehen.
Danach zogen Kälte und Feuchtigkeit ins Mauerwerk. Das zu beobachten ist für Roberto Müller bitter. Doch die erste Ernüchterung kam bereits nach dem Mauerfall. Im Keller des einstigen Hauses 1 wurde hinter schweren Brandschutztüren eine Abhöranlage entdeckt. Dass alle Telefongespräche überwacht wurden, davon habe er vorher nichts gewusst, sagt Müller. Vor der Wende habe er nur mit Genehmigung hierher gedurft, um Reparaturen auszuführen, die Türen seien sogar versiegelt gewesen. „Jedes Mal mussten die Siegel gebrochen werden.“ Die späte Entdeckung der Abhöranlage sei für die Mitarbeiter, die in den angrenzenden Plattenbauten gewohnt hätten, „ein moralischer Dämpfer“ gewesen, mehr aber nicht. „Denn keiner hat direkten Schaden genommen.“
Die nicht enden wollenden Einbrüche nehmen ihn da persönlich schon mehr mit. Schließlich gebe es hier keinen Fleck, den er nicht gesehen hätte, „kein Detail, das ich nicht in der Hand hatte“. Müller wundert sich darüber, dass immer wieder Leute versuchen, in die Gebäude einzudringen, obwohl die meisten Möbel und Interieurs schon längst verkauft oder geklaut wurden. „Sogar den 300 Kilogramm schweren Edelstahlgrill hinter dem Landhaus haben sie mitgenommen.“
Fehlender Wachschutz
Er ärgert sich weniger über die Kleinigkeiten, die immer noch abhandenkommen, als vielmehr über die Dreistigkeit derer, die meinen, sich hier selbst bedienen zu können. „Die ziehen und zerren mit aller Gewalt an verschlossenen Türen, weil sie zu glauben scheinen, der Läufer dahinter würde niemandem gehören.“ Doch für einen durchgängigen Objektschutz gebe es nicht ausreichend Geld. Normalerweise sei der Wachschutz zwischen 16 und 22 Uhr vor Ort und nur am Wochenende länger.
Bisher sei das Gelände trotzdem noch keine Pilgerstätte für Nazis geworden, sagt Roberto Müller. Zu bestimmten Anlässen wie Hitlers Geburtstag kämen sie manchmal schon, um zu feiern. Schön findet er das nicht, aber an die große Glocke hängen will Müller es aber auch lieber nicht. „Wenn man nicht eingreift, geht die Sache nach maximal einer Stunde friedlich zu Ende.“
Ob es für ihn nicht manchmal gespenstisch sei, hier ganz allein zu arbeiten? „Nein, weil ich nicht an die Geschichte vor mir denke, sondern an die tolle Atmosphäre, als ich selbst hier war.“ Wenn er sich daran erinnere, gehe es ihm schon ein „bisschen nah“.
Was man mit dem riesigen Gelände künftig anfangen solle, darauf weiß Müller aber auch keine Antwort. Eine private Schule oder Universität, ein Wellness-Hotel oder eine Unternehmensrepräsentanz? Bisher gibt es keine überzeugenden Nutzungsvorschläge.
Ein Konzept für eine historische Gedenkstätte hat bisher noch niemand vorgelegt. Und das ist nur allzu verständlich. Denn wessen sollte man auf dem zeitgeschichtlich doppelt kontaminierten Areal schon sinnvoll gedenken? Der Gefahr aussetzen, dass eine solche Einrichtung zu einem Wallfahrtsort für Neonazis oder zum Vergnügungspark für FDJ-Nostalgiker würde, will sich auch keiner.
Wunderbar zerschlissen
Für Fotografen ist das Gelände hingegen längst ein Glücksfall. Das zeigt der neue, schlicht gestalteten Bildband „Rote Stühle“, dessen Held nicht von ungefähr Roberto Müller ist. Im Begleittext zu den schönen Fotos von Jana Dimmey, die sich auf die wunderbar zerschlissenen Gebäude und Interieurs konzentrieren, lässt sich die Journalistin Katrin Matthes von ihm über das Areal führen: „Über dem schweigenden Ort liegt eine morbide Faszination, die Spannung der Ideologien zweier Diktaturen ist heute fast noch zu spüren.“
Roberto Müller versucht derweil, sich weder von der ungewissen Zukunft noch von der stetigen Verschlechterung der Bausubstanz verrückt machen zu lassen. „Sonst kriege ich Depressionen, gerade im Herbst und Winter.“ Er setze sich jeden Tag kleine Ziele, um sich selbst zu motivieren, sagt Müller. Dann zieht er auf seinem Rasenmäher los, um dem wuchernden Grün Einhalt zu gebieten.