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Archiv-Artikel

Im Zustand der Unhaltbarkeit

DEUTSCHE OPER Mit einer gelungenen Inszenierung von Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ hat der neue Intendant Dietmar Schwarz ein Signal an den Anfang der Spielzeit gestellt: der radikalen Moderne das Haus zu öffnen

Der Dirigent Lothar Zagrosek ist für seine Akribie berühmt, und es wurden in Berlin geschlagene 65 Proben für diese Produktion angesetzt. Das Orchester spielt deshalb auch, man muss es so deutlich sagen, brillant

VON BJÖRN GOTTSTEIN

Eine „Musik mit Bildern“ hat Helmut Lachenmann das Stück genannt. Nicht Musiktheater oder gar Oper. Und das ist natürlich nicht dasselbe. Trotzdem ist Lachenmanns „Das Mädchen mit Schwefelhölzern“ ein Werk für die Bühne, und als solches eröffnete es jetzt auch die neue Spielzeit der Deutschen Oper Berlin.

Wie inszeniert man eine „Musik mit Bildern“? Das wird sich auch das junge Regieteam um David Hermann gefragt haben, das zunächst nach möglichen Anknüpfungspunkten in der Partitur gesucht hat. Und die gibt es reichlich. Denn da ist ja nicht nur Hans Christian Andersens Geschichte vom Mädchen, das am Silvesterabend kümmerlich erfriert. Lachenmann interpoliert weitere Texte in sein Stück, die den Deutungsraum des Werks sinnfällig öffnen. Da gibt es einen Brief von Gudrun Ensslin, der RAF-Terroristin, die in unbändiger Wut anklagt und Kriminelle, Wahnsinnige und Selbstmörder als Sinnbild der Ohnmacht des Menschen im System entlarvt.

Das Publikum dieser Berliner Inszenierung schaut in verschiedene Zimmer hinein, darunter ein bürgerlicher Salon, der natürlich mit einem Konzertflügel ausstaffiert wurde. Umrankt werden die Zimmer von einem verschlungenen Tunnelgang, durch den sich zwei dunkle Gestalten behände bewegen. Oben unterm Dach haben sie sich ein Labor eingerichtet; wo wild gebraut und an Bombenähnlichem gebastelt wird.

„Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ ist keine Terroristen-Oper; Gudrun Ensslin steht mit ihrem Brief nicht im Zentrum des Stücks. Aber dieser Teil des Werks wird deshalb so wichtig, weil er der Wut eine Perspektive verleiht. Andersens Erzählung ist ja keine biedermeierlich-betroffenes Märchen, sondern eine harte Anklage: Wie kann es sein, dass der Mensch zulässt, dass andere verhungern oder erfrieren? Auch Lachenmann kann dieses Problem nicht lösen. Seine Musik macht das Mädchen auch nicht wieder lebendig. Er muss sich der Grausamkeit des Stoffes stellen.

Seit den Sechzigerjahren feilt Helmut Lachenmann an einer Klangsprache, in der Dissonanzen, Geräuschklänge, tonale Erinnerungsfragmente und Performatives einen eigenen, durchaus neuen Klangkosmos eröffnen. Seine Werke sind seither zu einer Art Referenz der musikalischen Avantgarde geworden. Es ist der technische Stand des Komponierens, an dem man sich misst.

Als Lachenmann seine „Musik mit Bildern“ in den Neunzigerjahren schrieb, hatte er die Möglichkeiten seiner Sprache bereits hinlänglich ausdifferenziert. Er konnte dieses Werk also mit einer gewissen Souveränität komponieren. Das Orchester, die vielen kleinen Fernorchester, zwei Chorgruppen, zwei Konzertflügel – der riesige Klangapparat erzeugt von Anfang an ein tiefes Unbehagen. Zersplittert, erfroren, der Klangwerdung unfähig – wie eine düstere Kreatur steigt die Musik aus dem Orchestergraben, während die Sänger auf der Bühne nur einzelne Silben, Buchstaben, Laute artikulieren. Die Musik wird gewissermaßen in einen Zustand der Unhaltbarkeit versetzt.

Gleichzeitig erzählt die Musik aber auch etwas, und einzelne Episoden des Märchen werden sogar regelrecht vertont. Das bibbernde Frieren, das deutliche „Ritsch“, mit dem die Schwefelhölzer gezündet werden, und vor allem die Visionen des Mädchens, das im Schein der Schwefelhölzer das Glück imaginiert. Das sind beinahe sentimentale Momente im Stück, mit viel funkelndem Blech, mit Anspielungen auf Walzer und die festliche „Stille Nacht“ – ein falscher Schein natürlich, aber eben doch „schöne Stellen“, in denen man sich als Hörer, wie das Mädchen ja auch, geborgen fühlt.

Der Regie fällt aber auf diese Klangbilder nicht herein. Stattdessen schreibt sie der Bühne ein verschachteltes Erzählen ein. Dass die Silvesterparty im Salon in einem Fiasko endet, ist bestimmt kein genialer Einfall, aber doch eine klare Zuspitzung des erzählerischen Kontexts. Auch durchkreuzt die Regie die musikalischen Prozesse nicht. Vom Klang her entzündet sich alles, was an diesem Abend auf der Bühne geschieht.

Der Dirigent, Lothar Zagrosek, hat das Werk 1997 in Hamburg uraufgeführt und dann noch einmal, 2001 in Stuttgart, geleitet. Zagrosek ist für seine Akribie berühmt, und es wurden in Berlin geschlagene 65 Proben für diese Produktion angesetzt. Das Orchester spielt deshalb auch, man muss es so deutlich sagen, brillant. Für einen Klangkörper, der ja keineswegs auf neue Musik spezialisiert ist, ist dies eine an Großartigkeit kaum zu überbietenden Leistung.

Es ging an diesem Premierenabend aber nicht nur um die Musik. Seit dem 1. August ist Dietmar Schwarz neuer Intendant der Deutschen Oper in Berlin. Er kommt aus Basel, wo er das Opernhaus zu internationalem Ansehen führte. Dass er seine erste Spielzeit mit Lachenmanns „Mädchen“ eröffnet, ist ein Signal, das nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

■ „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, wieder am 19., 20., 22. und 23. September