Der Sänger der Pop-Band Talk Talk ist tot: Graue Jahre, schwarze Tage
Die Platten seiner Band Talk Talk sind Schätze, die sich immer wieder heben lassen. Nun ist Mark Hollis, Sänger der britischen Pop-Band, gestorben.
Man stelle sich eine Platte vor, die an einen körperlichen Zustand in einem bestimmten Moment erinnert: Die Nacht war tief und hat lang gedauert. Die Nerven liegen blank, die Ohren kriegen mehr mit. Windstille klingt jetzt wie eine Tonfolge. Die Sinne sind so angespannt, dass sie Licht wie Klang wahrnehmen können. Ein Silberstreif am Horizont hört sich an wie ein sich in einem Lautsprecher drehender Ventilator.
Mit ihm beginnt „Laughing Stock“, das fünfte und letzte Album von Talk Talk. Als die englische Band 1990 ins Studio ging, um es aufzunehmen, hatten Songschreiber Mark Hollis sowie Produzent und Musiker Tim Friese-Greene eine Popstar-Karriere hinter sich. Mit Songs wie „It’s My Life“ , „Such a Shame“ oder „Life’s What You Make It“, die ihre dramatische Wirkung zu einem gut Teil noch aus neuromantischen, zuckersüßen Synthesizer-Katarakten bezogen, schafften sie es in die Charts mehrerer europäischer Länder.
Doch über die Jahre der mit der großen Plattenfirma EMI vertraglich vereinbarten Hit-Lieferungen waren die Ambitionen von Talk Talk gewachsen. Daher wechselten sie zum kleineren Label Verve, wo sie einen neuen Ansatz entwickeln durften. Ihre Musik sollte nun aus freudig begrüßten Studiounfällen, erspielten Zufällen und viel, viel Zeit entstehen.
Um sie zu nutzen, luden Hollis und Friese-Greene über etliche Monate nacheinander 50 Musiker ins Studio. Sie baten sie, auf Vorgaben zu verzichten und Ziele ab sofort als Spießerkram zu betrachten. Stattdessen sollten sie mit ihren Instrumenten um ihr Gefühl kreisen wie eine Motte um eine Zimmerlampe.
Die Platten sind Schätze
Waren die Musiker gegangen, machten sich Hollis und Friese-Greene daran, aus den teils über Wochen entstandenen Aufnahmen Mitschnitte von manchmal nur ein paar Sekunden Länge herauszunehmen und mit anderen zusammenzusetzen.
Das Ergebnis war eine Platte, die seit ihrem Erscheinen vor bald drei Jahrzehnten neu geblieben ist. Darauf zu hören ist die behutsamste Musik, die sich damals denken ließ, ergänzt um Hollis’ assoziative Zeilen, die den erwähnten Silberstreif immer breiter werden ließen: „Stell meinen Stuhl an der Tür des Hinterzimmers auf / Hilf mir auf / Ich kann nicht mehr warten / Die Liebe, die ich gesehen habe / auf jeder Treppe, die ich raufgetrödelt bin / Die eine mit Zuversicht, die zweite mit Angst / Unter meinen Füßen Abhängigkeit“.
Nach „Laughing Stock“ waren Talk Talk erschöpft oder zerstritten oder nicht mehr darauf erpicht, sich einem Publikum nahzubringen. Hollis, Vater von zwei Kindern, sprach davon, sich mehr seiner Familie widmen zu wollen. Sieben Jahre später folgte das Soloalbum „Mark Hollis“. Jetzt lagen Zeiten in unterschiedlichen Farben hinter dem Privatier. Graue Jahre, schwarze Tage, blaue Stunden und immer wieder andere Lebenslagen.
Die Platte war kaum weniger hinreißend als „Laughing Stock“. Dabei hatte Hollis sie vor allem herausgebracht, um die mit Verve noch bestehenden vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen. Nach der Veröffentlichung kündigte er seinen offiziellen Rückzug vom Musik-Business an, als wollte er das Signal senden, dass ihm in Zukunft bitte keiner mehr näherkommen solle. Das fiel und fällt vielen schwer. Denn Platten von Talk Talk sind Schätze, die sich immer wieder heben lassen. Vor ein paar Tagen ist Mark Hollis im Alter von 64 Jahren gestorben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung