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Menschen, die nicht mehr sind

Das Tanzsolo „Los Desaparecidos“ vom Steptext Dance Project arbeitet in einem bewegenden Abend die Verbrechen lateinamerikanischer Diktaturen auf

Von Jan Zier

Es sind so unzählig viele Menschen, dass das Individuum doch wieder in der Masse untergeht. Dabei sollten sie ja alle – gerade hier! – wieder ein Gesicht bekommen. Dicht an dicht hängen sie, in bedrückender Fülle, mal spärlich, mal grell beleuchtet, aufgereiht an einer großen Wand auf der Bühne der Schwankhalle. Mehrere Hundert Menschen, auf Schwarz-Weiß-Fotos, ohne Namen. Und dann noch viel mehr von ihnen, fein säuberlich auf dem Boden aufgereiht, wie auf einem Schachbrett. Sie alle sind: Verschwundene. Los Desaparecidos. Vom Erdboden verschluckt.

Das Stück des Steptext Dance Project widmet sich jenen Menschen, die in der Vergangenheit von den Sicherheitskräften rechtsgerichteter Militärdiktaturen in Lateinamerika heimlich festgenommen, verschleppt, gefoltert und ermordet wurden. Sie wurden, weil politisch missliebig, von der Straße weg entführt, zu Hause abgeholt oder bei einer Demonstration willkürlich verhaftet und ohne gerichtliches Verfahren umgebracht. Von vielen fehlt bis heute jede Spur. Die Täter kamen meist straffrei davon, weil die Morde in der Regel geheim blieben und staatliche Behörden jegliche Beteiligung daran strikt abstritten. Die Familien der Opfer erfuhren also nichts und verzweifelten darüber vielfach: Sie wussten ja nicht, ob jene, die sie suchten, nun dem Staat zum Opfer gefallen waren oder sich tatsächlich, wie vielfach behauptet, in die USA oder mit einer anderen Frau abgesetzt hatten. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen ließen die lateinamerikanischen Militärdiktaturen in den 1970er- und 1980er-Jahren insgesamt rund 35.000 Menschen dauerhaft „verschwinden“. Erst 2006 verabschiedete die UN das „Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Menschen vor dem Verschwindenlassen“ – um weitere Fälle zu verhindern.

Das einstündige Tanzsolo „Los Desaparecidos“ erinnert an diese Verschwundenen, ergründet aber vor allem in intensiven Bildern das Leben derer, die traumatisiert zurück bleiben. Die weiter leben müssen zwischen Hoffen und Resignation, aufgefressen werden von Angst, Unsicherheit, Wut und ohnmächtiger Verzweiflung – die warten müssen auf eine Gewissheit, die wahrscheinlich nur noch ein Leichnam bringen kann. „Ist je ein Mensch aus deinem Leben verschwunden?“, fragt die Stimme aus dem Off. Ansonsten verzichtet die Inszenierung bewusst auf Text und Sprache, setzt stattdessen ganz auf den körperlichen Ausdruck und die physische Präsenz, mit der Augusto Jaramillo Pineda seine Geschichten erzählt.

Es ist seine erste Zusammenarbeit mit der preisgekrönten kubanischen Choreografin Maura Morales. Von Haus aus ist der gebürtige Kolumbianer ja eher ein Schauspieler, das merkt man seinen Inszenierungen an, und doch ist er ein leidenschaftlicher Tänzer – und auch das spürt man sofort. In Bremen arbeitet er schon seit vielen Jahren als Choreograf des Jugendlabels Young Artists der Steptext Dance Company.

Es geht um die Ermordenten. Und um uns selbst

Mit „Los Desaparecidos“ kehrt er thematisch nun in sein Herkunftsland zurück – er habe selbst viele Freunde an das „erzwungene Verschwindenlassen“ verloren, erzählt Jaramillo Pineda nach der Premiere. Sein Stück ist eine Anklage gegen die Unmenschlichkeit der Militärregime, aber auch eine eindringliche Aufforderung an uns, die wir aus der Ferne zuschauen, doch aus unserer Gleichgültigkeit zu finden. Vor allem aber ist die Inszenierung ein Appell an die Menschlichkeit, und das ganz ohne allzu moralische Vorhaltungen oder pädagogische Zumutungen. Deshalb ist der Abend ein sehr emotionaler, unheimlich kraftvoller und tief bewegender, ganz ohne dass wir viel über jene erfahren, um die es hier geht. Es tut einem als Zuschauer selbst weh, wenn Jaramillo Pineda auf der Bühne würgt und leidet, es schmerzt, wenn er die Fotos der Verschwundenen mal mit den Füßen tritt. Und es macht Hoffnung, wenn er sie irgendwann wieder zu der Figur eines Menschen zusammensetzt. Die Musik, die Michio Woigardt dazu komponiert hat, beginnt mit beklemmendem Kratzen und Schritten in der Ferne, kann dann aber auch sehr rhythmisch sein – oder uns einfach der Stille aussetzen.

Am Ende erntet der Solist viel Applaus. Und gibt ihn im selben Moment weiter an jene, die verschwanden. Es geht eben nicht nur um ihn, um uns selbst.

Wieder am 2. und 5. Februar, 20 Uhr, Schwankhalle

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