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Mit Scheuklappen durch die Welt

Der Hamburger Filmemacher Anders Lang hat nach einem Schlaganfall ein eingeschränktes Gesichtsfeld. Mit „Blinde Flecken“ hat er darüber seinen ersten langen Film gemacht

Von Wilfried Hippen

„Ich schau durch ein Loch nach draußen und die Welt rauscht an mir vorbei.“ So beschreibt Anders Lang, wie er nach einem Schlaganfall vor neun Jahren nun seine Umgebung sieht. Der Anfall hat einen Teil seines Sehzentrums zerstört. Auf einem Computerscan vom Inneren seines Gehirns kann man dies als einen kleinen weißen Fleck sehen. Das bedeutet, dass die Sehbeeinträchtigung sich nicht vermindern oder gar verschwinden wird. Anders Lang hat nun einen Tunnelblick, er kann also nur das sehen, was im Zentrum seines Gesichtsfeldes ist.

Lang war Rundfunkjournalist beim NDR und hat ein paar Kurzfilme gemacht. Für einen Filmemacher hätte solch eine Beeinträchtigung eigentlich bedeutet, dass er in seinem Metier nicht weiterarbeiten kann. Aber Anders Lang ging in die entgegengesetzte Richtung und machte über diese persönliche Katastrophe seinen ersten langen Film: „Blinde Flecken“.

Dafür hätte sich eigentlich ein Dokumentarfilm aus einer konsequent subjektiven Perspektive angeboten. Solche Filme in der „Ichform“ sind ja durch Michael Moore und in Deutschland durch David Sieveking populär geworden. Aber es gehört auch eine gehörige Portion Exhibitionismus dazu, sich selbst so zu inszenieren. Und dies war offensichtlich nicht die geeignete Form für Lang. Stattdessen erzählt er nur in wenigen Sequenzen von seiner eigenen Krankheitsgeschichte. Er nutzt sie als eine Einführung, indem er etwa Pferde bei einem Trabrennen mit Scheuklappen zeigt, weil diese Bilder seine Sehbeeinträchtigung gut illustrieren können.

Statt von sich selbst zu erzählen, geht Lang mit der Kamera auf eine Suche, um mehr über seine Krankheit zu erfahren. Dabei findet er drei Protagonisten, die ebenfalls nach einem Schlaganfall nur noch einen kleinen Ausschnitt von der Welt sehen können.

Dabei zeigt sich schnell, dass diese Sehminderungen individuell sehr verschieden sein können. Der Professor und Musiker Roland sieht etwa rechts oben in knapp einem Drittel des Gesichtsfeldes nur ein diffuses Weiß. Der Krankenpfleger Michael kann am rechten Rand nur helle Schemen wahrnehmen. Für Barbara, die mit ihrem Ehemann in Berlin lebt, ist die linke Hälfte schwarz. Dies prägt sich auch deshalb so gut bei den Zuschauenden ein, weil Lang es in seinem Film deutlich sichtbar macht.

In der Postproduktion hat er einige seiner Filmsequenzen so bearbeitet, dass sie jeweils aus der Perspektive der Protagonisten nur das zeigen, was diese sehen können. Und dieser Kameratrick ist sehr effektiv, denn ein Problem bei dieser Krankheit ist, dass sie unsichtbar ist. Man sieht sie den Betroffenen nicht an. Selbst wenn sie sie schildern, ist es schwer nachzuvollziehen, wie gravierend und existenziell diese Veränderung für das Leben der Betroffenenen ist. Auch der Ehemann von Barbara erzählt davon, dass er manchmal nicht versteht, warum sie auf dem Zebrastreifen so lange zögert – weil sie eben nicht überblicken kann, ob gerade ein Auto kommt.

So aber kann man sehen, was die anderen nicht sehen können. Lang arbeitet auch mit anderen Metaphern als den Scheuklappen: Menschen, die durch ein Spiegelkabinett irren oder Bahnfahrten in dunklen Tunneln. Aber die Bilder mit den blinden Flecken machen diese schönen Bildfindungen fast überflüssig. Viel wichtiger ist, dass Lang drei beeindruckende Protagonisten gefunden hat, die gut über ihre Krankheit reden können und genau so viele Einblicke in ihr Privatleben zulassen, dass man versteht, wie anders ihr Leben nach dem Anfall ist.

Die drei erzählen auch davon, wie tief und dunkel die seelischen Löcher waren, in die sie fielen: Roland hatte Selbstmordgedanken, für Michael schien die berufliche Existenz in Trümmern zu liegen und Barbara hatte schreckliche Angst davor, ganz zu erblinden.

Umso beeindruckender ist es, wie gut die drei es inzwischen geschafft haben, ihre Leben wieder zu meistern. Michael fährt wieder mit einem Auto zur Arbeit, allerdings mit einem, das nicht schneller als 45 Stundenkilometer fahren kann. Und in einer der berührendsten Szenen des Films gelingt es Barbara, eine Torte ziemlich genau durch die Mitte mit einem Messer zu teilen. Sie ist sichtlich stolz – so gut habe sie dies schon lange nicht mehr geschafft, sagt sie.

Deshalb ist „Blinde Flecken“ kein niederdrückender Film geworden. „Betroffenheitskino“wollte Anders Lang auch auf keinen Fall machen. Dass ihm dieser Film so gut gelungen ist, zeigt ja, wie gut sich die Menschen auch an diese Beeinträchtigung anpassen können.

Der Professor und Musiker Roland sieht rechts oben in knapp einem Drittel des Gesichtsfeldes nur ein diffuses Weiß

Lang hatte allerdings, so seltsam sich dies auch anhört, „Glück“ mit seiner Sehminderung. Denn weil sie eine Tunnelvision ist, kann er, wenn er durch die Optik einer Kamera blickt, alles sehen. Auch seinen eigenen Film sieht er, anders als seine Protagonisten, vollständig und scharf, wenn er nur weit genug von der Leinwand entfernt sitzt.

Lang hat „Blinde Flecken“ so gut wie allein gemacht. Er führte Regie, stand hinter der Kamera, machte den Ton und in der Postproduktion dann auch die Musik und das Sounddesign. Aber schneiden sollte ein Filmemacher seine Werke möglichst nicht allein, weil ihm der Abstand fehlt, und er nicht – wie fast immer nötig – fähig ist, seine Lieblingeinstellungen wegzulassen.

In dieser Phase hatte Lang das Glück, die Dokumentarfilmerin Antje Hubert von der Hamburger Produktionsgemeinschaft „Die Thede“ zu treffen. Sie half ihm beim Schnitt und bei der Dramaturgie und schließlich auch dabei, eine Crowdfundingkampagne zu organisieren. Denn Lang hatte bis dahin den Film ohne jede Förderung selbst finanziert. Aber um ihn fertigzustellen, wurden noch ein paar Tausend Euro mehr benötigt.

Seit November wurde „Blinde Flecken“ bei ein paar Veranstaltungen gezeigt. Auf der Internetseite von „Die Thede“ ist es möglich, eine DVD zu bestellen. Bald soll der Film auf einer Screening-Plattform angeboten werden.

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