berliner szenen: Ein Wunder am Straßenrand
An den gelben Plastikboxen an den Ampeln ist unten so ein Knopf. Einfach mal drunter fassen, man kann ihn nicht verfehlen. Wenn man den drückt, zeigt die Plastikbox mit roten Buchstaben an, dass man gleich über die Straße gehen kann. Dass tut sie zwar auch, wenn man die Box von vorne drückt. Aber irgendwie hat es etwas Verbindlicheres, auf den versteckten Knopf zu drücken als auf die gelbe Scheibe vorne, die nicht nachgibt.
Woher ich das weiß? Die jüngere Tochter hat es mir mal gezeigt. Und die weiß es, weil sie es in einer dieser lehrreichen Sendungen bei Kika erfahren hat. Da hat man ihr auch beigebracht, dass die Türschließknöpfe in Aufzügen meist nur Attrappen sind und wie die Bremsen vom ICE funktionieren. Seit sie mir von diesem Geheimknopf erzählt hat, drücke ich an der Ampel immer unten. Und wer diesen Text gelesen hat, wird es vielleicht auch tun und damit einen Schritt zurück in die Zeit, als die Weltsicht dadurch geprägt war, dass man die Knöpfe an den Plastikboxen von unten sehen kann, weil man noch so klein ist. Da sieht man die ganze Stadt mit anderen Augen. Man weiß nicht nur, an welchen Ecken Kaugummiautomaten hängen – sondern man merkt auch, dass die Kaugummiautomaten nicht mehr aufgefüllt werden. Bis sie irgendwann doch wieder aufgefüllt werden, vielleicht weil der Lieferant gewechselt hat.
Wenn man so klein ist, dass man die gelben Plastikboxen an den Ampeln von unten ansehen kann, sind das Ereignisse, die wichtiger sind als Bundestagswahlen und Jahrhundertsommer und wunderbarer als die unbefleckte Empfängnis. Was dem Vater noch mal klar wird, wenn die Tochter das Alter erreicht, in dem das Interesse an diesen Wundern am Straßenrand erlahmt und Fragen immer öfter mit einem gelangweilten „Keine Ahnung“ beantwortet werden. Tilman Baumgärtel
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