: Ein Tod mit Folgen: In Hamburg wird das Thema „vernachlässigte Kinder“ zum Politikum
Der grausame Tod der kleinen Jessica löste im März in Hamburg ein politisches Beben aus. Die beiden Senatorinnen für Soziales und Bildung gerieten mächtig unter Druck. Der Senat setzte unter Federführung der Justizbehörde eine Projektgruppe „Informierte Jugendhilfe“ ein, die aufzeigen soll, wie in Zukunft verhindert werden kann, dass niemand das Elend eines Kindes bemerkt. Die für Mai angekündigte Drucksache ist nach taz-Informationen intern umstritten und soll nun erst Ende September vom CDU-Senat verabschiedet werden.
Derweil beriefen alle drei Rathausparteien – die regierende CDU sowie die Opposition aus SPD und Grünen – gemeinsam einen „Sonderausschuss Vernachlässigte Kinder“ ein, der bereits Ärzte, Rechtsmediziner und Jugendamtsleiter anhörte und zuletzt am vorigen Freitagabend bei einer öffentlichen Anhörung den Fall der siebenjährigen Fenja (Name geändert) zu Tage brachte.
Das Mädchen wurde im August 2004 wegen massiver Vernachlässigung und eines Missbrauchsverdachts für acht Monate aus der Familie genommen, aber im Juli 2005 auf Grundlage eines umstrittenen Gutachtens vom Familiengericht wieder zurückgeschickt. Das Jugendamt machte hier nicht von seinem Widerspruchsrecht Gebrauch. Dieser neue Fall wirft die Frage auf, wie gut die Jugendämter, in Hamburg Allgemeine Soziale Dienste (ASD) genannt, arbeiten, haben sie doch die „Garantenpflicht“, das Kindeswohl zu schützen.
In der Ausschusssitzung hatten zuvor Vertreter von Kindertagesstätten moniert, dass es von den ASD oft keine Rückmeldung gebe und die Kommunikation eine „Einbahnstraße“ sei. Wenn eine Kita-Leitung melde, dass ein Kind drei Wochen fernbleibe, was ein Hinweis auf Probleme in der Familie sein kann, bestehe sogar die Gefahr, dass den Eltern der Kita-Gutschein entzogen wird.
„Beim ASD kommen wir nicht immer weiter“, erklärte auch Antje Trabeck vom Verein „Sucht und Wendepunkt“, die auf die Problematik alkoholabhängiger Eltern hinwies, was auch im Fall Jessica eine Rolle gespielt haben könnte. In Hamburg lebten 60.000 Kinder in solchen Familien. Das Nottelefon ihres Vereins riefen pro Jahr allein 8.800 Kinder an, die mit ihren Eltern nicht mehr weiterwissen.
Doch die Ämter gingen auch hier zu zaghaft vor und ließen sich mitunter jahrelang von einer Mutter mit dem Versprechen trösten, sie werde bald eine Therapie beginnen. Nötig wäre aber, meint Antje Trabeck, dass Sozialarbeiter offensiver diese Familien aufspüren. „Wenn am Kiosk eine Frau Alkohol kauft, dann können Sie doch fragen, ‚Haben sie Kinder?‘.“
Kein Geheimnis in der Stadt ist allerdings, dass die ASD personell überlastet sind und sich die Zahl der unbesetzten Stellen seit Jessicas Tod sogar von 19 auf 23 erhöhte. Extremstes Beispiel: Im Hamburger Bezirk Bergedorf ist ein Sozialarbeiter für 8.500 Menschen zuständig. Ende März kündigte beim ASD die Sozialarbeiterin Elisabeth Tingel, weil sie die Arbeit „nicht mehr verantworten“ könne.
Ein Problem ist die „Stellenbewirtschaftung“, die die sieben Stadtbezirke zwingt, frei werdende Stellen unbesetzt zu lassen. Der Bezirk Wandsbek hat nach Jessicas Tod einen Bericht verfasst, der nahe legt, die Jugendämter davon zu befreien. Bei den zuständigen Senatsbehörden will keiner davon etwas wissen.
Derweil hat die SPD-Fraktion jetzt angeregt, man möge in der Bürgerschaft gemeinsam beschließen, dass die Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt verbindlich werden. Denn wäre Jessica regelmäßig bei Arzt erschienen, da sind sich alle Experten einig, wäre ihr Zustand aufgefallen. Kaija Kutter