: Gender Trouble in Akyurt
Im südosttürkischen Dorf Akyurt und umliegenden Orten leben mehr als 20 intersexuelle Menschen. Sie werden ausgegrenzt und sozial benachteiligt.
Von Figen Güneş
Ahmet Zını, Vater von 12 Kindern, hat laut Geburtsregister neun Töchter und drei Söhne. „Bei drei der Kinder, die wir nach ihrer Geburt als Mädchen registrieren ließen, war etwas anders“, erzählt der 58-Jährige. „Mit neun Jahren wurden ihre Stimmen plötzlich tiefer. Sie wollten keine Mädchenkleider mehr tragen und ärgerten sich über ihre rosa Personalausweise.“ Noch bis vor Kurzem stellte der türkische Staat rosa Ausweise für weibliche und blaue für männliche Bürger aus.
Das Dorf Akyurt liegt 30 Kilometer von der Hauptstraße entfernt, die die südosttürkischen Städte Diyarbakır und Urfa miteinander verbindet. Hier und in den umliegenden Orten sollen den Dorfbewohner*innen zufolge mehr als 20 intersexuelle Personen leben. Die regierungsnahe Nachrichtenagentur Demirören bezeichnete Akyurt in einem Artikel als „Albtraum-Dorf“.
Intersexualität ist dem Medizindozenten Koray Başar von der Hacettepe-Universität Ankara zufolge genetisch bedingt und kann neben Verwandtschaftsehen zahlreiche Ursachen haben.
Auch Ahmet Zını ist mit der Tochter eines Onkels verheiratet. Seine drei intersexuellen Kinder lehnen die Mädchennamen, die in ihren Ausweisen stehen, ab. Durch leichte Änderungen haben sie daraus ihre eigenen Wunschnamen gemacht: Aus Sabriye wurde Sabri, aus Aysel Veysel. Yüksel behielt seinen Namen, der sowohl ein Frauen- als auch ein Männername ist.
Yüksel Zını ist 24 Jahre alt, hat nie die Schule besucht und kann kaum lesen und schreiben. Letztes Jahr hat er sich in einem staatlichen Krankenhaus in Diyarbakır einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen. Anschließend wurde er nach islamischem Recht mit Asya, einem Mädchen aus dem Dorf, verheiratet. Diese Eheschließung ist in der Türkei nicht rechtsverbindlich, jedoch vor allem auf dem Land noch weit verbreitet. Eine Zivilehe kann er erst eingehen, wenn er im Geburtsregister als Mann eingetragen ist. Jetzt hat er rechtliche Schritte in die Wege geleitet, um offiziell als Mann anerkannt zu werden.
Professor Abdurrahman Önen von der Kommission für Geschlechterforschung der Kinderklinik Diyarbakır erklärt, die Gesellschaft kenne nur zwei Geschlechter und sei nicht bereit, ein drittes anzuerkennen. Die Familien, insbesondere diejenigen, die vom Land kommen, bestünden in solchen Fällen darauf, dass das Kind durch Operation zu einem Jungen werde.
Im Nachbardorf Çıkrık wohnt Aziz Işık, ein entfernter Verwandter von Ahmet Zını. 1986 verließ Işık zum ersten Mal sein Dorf, um auf den Baumwollfeldern zu arbeiten – und traf dort seine erste große Liebe. Auch Işık, der heute 50 Jahre alt ist, ist intersexuell. „Ein schönes Mädchen hatte sich in mich verliebt“, erzählt er. „Eineinhalb Jahre lang haben wir uns in den Feldern getroffen. Dann hat sie mich auf einmal verlassen, weil ihre Familie Menschen wie mich verachtete. Sie haben sie mit jemand anderem verheiratet – zehn Jahre lang hatte ich Liebeskummer.“
Ein Arzt, der Işık im Alter von vier Jahren in Ankara behandelt hatte, sagte der Familie damals, es liege eine „Entwicklungsstörung der Eierstöcke“ vor. Wenn er 14 Jahre alt sei, könne man feststellen, welches Geschlecht stärker ausgeprägt sei, erst dann könne über eine Operation entschieden werden. Später wollte man ihn in den staatlichen Krankenhäusern nicht mehr operieren.
Wer in der Türkei offiziell die männliche Identität annehmen möchte, obwohl bei der Geburt das weibliche Geschlecht bestimmt wurde, muss sich noch immer einer geschlechtszuweisenden Operation unterziehen. „Es wird allgemein angenommen, dass man Intersexuellen durch medizinische Eingriffe ihr wahres Geschlecht zurückgibt, auf das sie ein Anrecht haben“, sagt Koray Başar von der Hacettepe-Universität. „Deshalb werden diese Eingriffe als legitim angesehen, ohne hinterfragt zu werden.“ Başar betont, dass intergeschlechtliche Menschen jedoch nur dann medizinisch behandelt werden sollten, wenn sie ihre Entscheidung selbst frei treffen können.
Işık trägt eine schwarze weite Pluderhose unter dem leuchtend grünen Jackett. Er erhebt sich von seinem Sitzkissen und holt ein Fotoalbum, in dem er Fotos seiner Jugendlieben aufbewahrt. Zwischen den Seiten stecken Krankenhausbelege und Arztberichte. Er zieht Bilder unter den dünnen Schutzfolien hervor, streicht darüber und betrachtet sie. „Es war nicht leicht, die weibliche Identität anzunehmen. Noch dazu sahen die Leute auf mich herab, sie hielten es für etwas Schmutziges.“
Intersexualität kommt in der Gesellschaft häufiger vor als gemeinhin angenommen. Universitätsdozent Koray Başar berichtet von Studien, nach denen weltweit eine von 2.500 bis 4.000 Personen intergeschlechtlich ist, und solchen, die den Anteil mit 1,7 Prozent beziffern. Früher in der Medizin als Hermaphroditismus bezeichnet, sei diese Bezeichnung 2006 nach der gemeinsamen Erklärung einer Expertenkommission offiziell in „Störung der Geschlechtsentwicklung“ umbenannt worden. Von Betroffenen und Genderforscher*innen werde dieser Begriff aber stark kritisiert, weil die Betonung auf „Störung“ liegt. Başar unterstreicht ausdrücklich, dass keine wissenschaftlich begründete Notwendigkeit besteht, den Körper in eines der beiden Geschlechter zu klassifizieren.
Işık konnte seine Forderung auf medizinische Behandlung nicht durchsetzen und fühlt sich deshalb um sein Existenzrecht betrogen. Er war sozial ausgegrenzt, ging weder zur Schule noch fand er eine Arbeit. Der jahrelange psychische Stress hat seine Gesundheit ruiniert, die Ärzte haben eine Depression bei ihm diagnostiziert. Inzwischen bringt er 95 Kilo auf die Waage. Schwerer als die physische Last wiege für ihn jedoch die seelische Belastung, sagt Işık: „Mein ganzes Leben lang blieb meine Liebe unerfüllt.“
Inzwischen will Işık die Operation, durch die er offiziell die männliche Identität annehmen könnte, nicht mehr. Sein Vater ist gestorben, und aufgrund seines Status als ledige Tochter erhält er nach türkischem Gesetz ein Drittel von dessen Gehalt als Waisenrente, die ihm als Mann gestrichen werden würde. „Die Mädchen, die ich geliebt habe, haben längst geheiratet. Deshalb will ich meine Identität nicht mehr ändern.“
Im wenige Kilometer entfernten Dorf Akyurt sitzt Ahmet Zını auf der Veranda seines Hauses. Seine Kinder sparen ihren Lohn von der Arbeit auf den Baumwollfeldern, um den anderen beiden intersexuellen Geschwistern die geschlechtszuweisenden Operationen finanzieren zu können, erzählt er. Seine Sätze bleiben unvollständig. Als er einen Straßenhändler auf der schmalen Asphaltstraße vorbeigehen sieht, steht er auf. Die zum Gruß erhobene Hand bleibt eine Weile in der Luft hängen.
Übersetzung: Judith Braselmann-Aslantaş
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