Benjamin Moldenhauer Popmusik und Eigensinn: Rebellion aus dem Kaufmannsladen
Heute schließt der Plattenladen Ear. Er war der letzte seiner Art im Steintorviertel. Hot Shots gibt es noch in der Knochenhauerstraße, da läuft es wohl irgendwie noch ganz gut. Alles in allem aber tendiert der gesellschaftliche Bedarf an Orten mit Türen, hinter denen man Musik kaufen kann, rapide gegen Null. Soll man betrauern, dass kaum noch wer sein Geld in den mittelständischen Einzelhandel trägt? Ist das schlicht der Lauf der Zeit oder rapider Kulturverfall, der lautstark beklagt werden sollte? Ist das Wegsterben einer ganzen Branche Ausdruck der unaufhaltsam scheinenden Monopolisierung, oder lässt sich daraus Weitreichenderes ableiten? Ich vermute sowohl als auch, das eine bedingt das andere, das Verschwinden der Läden ist verbunden mit dem Verschwinden dieser Art von Ware aus den Lebenswelten.
Wo es nicht als kriminell gilt, dass Menschen unter Bedingungen wie bei Amazon und DHL arbeiten und eine derartige Konzernpolitik nicht Verbannung oder Einzelhaft, sondern mitunter Steuerfreiheit zur Folge hat, ist der Preiskampf schon entschieden und der lokale Betrieb kann, wie jetzt eben passiert, einpacken. Wer heute überhaupt noch Vinyl oder gar CDs kauft, tut das per Mailorder; da gibt es das Album für fünf Euro weniger, und fünf Euro, das ist gutes Geld. Egal ob es um ein Hüsker-Dü-Boxset, Stevie Wonder oder eine John-Zorn-CD von 1992 geht: Auch der mit Spezialwissen ausgestattete Musikkenner rechnet nicht ohne Leidenschaft nach, wenn er emsig sein Zeug zusammensammelt.
Der junge Mensch hingegen kauft gleich gar keine Platten mehr, das ist hier der eigentlich interessante Punkt. „Speziell in der Jugend gibt Musik den in uns lodernden Emotionen einen Rahmen und setzt Orientierungspunkte im Labyrinth der Selbstfindung“ zitiert der Weser Kurier einen ehemaligen Ear-Verkäufer. Vorbei, vorbei: Alben, Bandposter – „All diese Dinge gibt es noch“, schreibt Georg Seeßlen in seinem sehr klärenden Buch über Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung „Is this the End?“. „Aber sie haben ihre Schlüsselfunktion verloren; sie sind nicht mehr so in die Biographie eines Menschen eingeschrieben wie einst, sie setzen keine ‚Person‘ mehr zusammen wie bestimmte Filme, bestimmte Songs, bestimmte Comics einst eine Person zusammensetzten.“
Wie das heute funktioniert, ich kann es nicht sagen. Vielleicht ja gar nicht. Dieses Sich-selbst-Zusammensetzen mithilfe von Popmusik, das hatte jedenfalls immer etwas Illusionäres. Illusion im Sinne Freuds, nicht einfach als eine falsche Vorstellung, sondern als imaginäre Erfüllung eines Wunsches: „Bitte lieber Gott, lass mich kein bürgerliches Wesen werden“ – ein Werbespruch des 2018 verblichenen Popmagazins Spex. Das Album also als eine quasi halluzinatorische Weise der Wunscherfüllung angesichts der eigenen Handlungsunfähigkeit oder -unlust. Die Versprechen im Subkultur-Segment lauteten Unangepasstheit, Rebellion, Distinktion und Liebe – das konnte man einst einfach mitnehmen im Laden um die Ecke. Dass sich eine Ware mit derartigen Wünschen aufladen lässt und dass wir ihre mediale Vermittlung als reale Affektivität zu spüren bekommen, ist nicht die kleinste Kulturleistung, die sich unter der Herrschaft des Kapitals entfalten durfte.
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