: Angst vor dem Feuilleton
„Wie ist denn deine Bilanz, Christina?“: Wolfgang Thierse lud in der Kulturbrauerei zu einer Diskussion über die vergangene und zukünftige Kulturpolitik des Bundes
Im Gegensatz zu anderen Politikfeldern hat die SPD in Sachen Kultur nicht die schlechteste Figur abgegeben. Im Wahlkampf muss sie die Kontrahenten eigentlich nur machen lassen. Bisher hat sich außer Heino noch niemand öffentlich dazu bekannt, ein Unterstützer der CDU/CSU zu sein. Die Verlautbarungen in Sachen Kultur der Kanzlerkandidatin klangen eher, als hätte sie seit ihrer Schulzeit nicht weiter über Kulturpolitik nachgedacht, sieht man mal von Richard Wagner und der Sehnsucht nach Textkenntnis von Volksliedern ab.
Am Montagabend, im Palais der Kulturbrauerei, hätte Culture Club ganz gut gepasst als Untermalung für eine Wahlveranstaltung der SPD in Sachen Kulturpolitik. Man entschied sich dann aber für Jazzstandards. Eingeladen hatte Wolfgang Thierse in den kulturellen Leuchtturm seines Wahlkreises, um über die Bundeskulturpolitik zu reden. Auf dem Podium nahmen fünf ausgewiesene Kämpfer in Sachen SPD-Kulturpolitik Platz, Günter Grass („Ich kann es nun mal nicht lassen“), Jürgen Flimm, Günther Uecker, Klaus Staeck und die Bundesstaatsministerin Christina Weiss.
Das Durchschnittsalter betrug aufgeräumte 66,6 Jahre, das des Publikums lag vielleicht zehn Jahre darunter. Es bestand im Wesentlichen aus Sympathisanten, Leute aus dem Wahlkreis waren kaum darunter, dafür etliche Prominente des Kulturlebens und charmante ältere Biertrinkerinnen, die nach dem dritten Glas mit unterdrückter Stimme ihre Langeweile bekundeten.
Auf der Bühne hatte Thierse es mit ausgewiesenen Selbstdarstellern zu tun, die schon Wahlkampf für die SPD gemacht haben, als er noch über den sozialistischen Realismus nachdenken musste. Der Osten war dann kurz Thema, ging aber im Geplänkel zwischen Jürgen Flimm und Klaus Staeck unter. Günter Grass hielt gleich zu Anfang eine Friedensrede vom Vortag noch mal, weil die Berliner Lokalpresse sie nicht zur Kenntnis genommen hatte. Auf den inneren und äußeren Frieden konnten sich im Publikum alle einigen. Günther Uecker dagegen redete vorwiegend über Indonesien.
Aufgefordert, Bilanz zu ziehen, sprach die Kulturstaatsministerin über die Erfolge und Schwierigkeiten vor allem der Bundeskulturstiftung und erneuerte ihre Forderung, die auswärtige Kulturpolitik in ihr Haus zu integrieren. Es war viel von der Kulturnation die Rede und dass Kultur keine Subvention, sondern eine Investition sei und mehr als die Summe von sechzehn Bundesländern. Im Wesentlichen ging es um Sinn und Unsinn einer Erweiterung der Kompetenzen eines möglichen Kulturministeriums, dessen Einrichtung mehrheitlich abgelehnt wurde. Man gab sich optimistisch. Nur einmal rutschte Jürgen Flimm heraus, dass ihm die Diskussionen mit dem Kanzler fehlten. Dass Künstler im Allgemeinen von der Politik in Ruhe gelassen werden und unter nicht allzu großen Entbehrungen ihrem Tag- und Nachtwerk nachgehen wollen, geißelte er als altmodische Vor-68er-Haltung. „Wir haben, wenn wir bei Schröders waren, immer Kritik geübt.“
Günter Grass warf seinen jüngeren Kollegen vor, sich aus Feigheit nicht klar und deutlich politisch zu positionieren. „Wer Angst vor dem Feuilleton hat, hat als Schriftsteller seinen Beruf verfehlt.“ Klaus Staeck hielt dagegen, dass es ohne Umsatz keinen Idealismus gebe, und beharrte auf seiner Selbstständigkeit. Nach mehr als zwei Stunden – der Sauerstoffgehalt der Luft war unter die gewerkschaftlich vertretbare Grenze gesunken – war Schluss, und der Nobelpreisträger gab gut gelaunt und frisch Autogramme.
ANNETT GRÖSCHNER