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Frei für kurze Zeit

Kriegstrauma, Morphiumsucht: Bilder aus Ernst Ludwig Kirchners Schweizer Jahren der Sammlung E. W. Kornfeld sind im Brücke-Museum in Dahlem zu sehen

Ernst Ludwig Kirchner: „Wildboden im Schnee“ (1924)Foto: Sammlung Eberhard W. Kornfeld

Von Sabine Weier

Als Ernst Ludwig Kirchner im Winter Anfang des Jahres 1917 im schweizerischen Davos ankommt, ist er vollkommen erschöpft. Den Kriegsdienst, von dem er nach einem Nervenzusammenbruch provisorisch freigestellt ist, verlässt er als Versehrter. Nach mehreren Sanatoriumsaufenthalten kommt er schließlich in die Schweiz. Es ist bitterkalt. Zehn Tage liegt der Wegbereiter der modernen Kunst, der ihr mit lustvoller Farbpalette nie gesehenes Leben einhaucht, im Bett einer Pension. Um ihn herum ist alles grau. Hier wird er genesen, auf der Stafelalp abseits des Trubels im mondänen Bergort eine neue Schaffensperiode beginnen.

Im Brücke-Museum in Dahlem sind nun Kirchners Schweizer Arbeiten zu sehen, erstmals so umfassend hierzulande überhaupt. Sie stammen aus der Sammlung des Kunsthändlers E. W. Kornfeld. Chronologisch und in Werkphasen organisiert, bietet die Schau einen Rundgang durch dieses wichtige Kapitel in Kirchners Schaffensleben.

Zusammen mit Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff hatte Kirchner 1905 in Dresden die Brücke gegründet. Auch Emil Nolde, Max Pechstein und andere traten bald bei, um die Kunst zu erneuern. Ihren inneren Schaffensdrang überführten die Expressionisten in Form und Farbe. In Berlin, wo Kirchner vor seiner Flucht in die Schweiz lebte, malte er die bekannteren Straßenszenen der Millionenstadt, legendär etwa das Gemälde „Potsdamer Platz“ von 1914. Es zeigt zwei grünlich-blasse Damen beim Anschaffen auf einer Verkehrsinsel, Freier lauernd auf den Trottoirs, die Perspektive verzerrt, die Farben wie vergiftet.

Jetzt bevölkern blaue Kühe, lila Nadelbäume und von rosa Schnee bedeckte Almen seine Gemälde. Dazu das urige Holzhaus, in dem er mit Erna Schilling, die für ihn Berlin hinter sich gelassen hat, ein neues Zuhause findet. Zusammen mit ihrer Schwester hatte die ehemalige Nachtclubtänzerin schon Modell für den „Potsdamer Platz“ gestanden. Nun fertigt Kirchner Holzschnitte mit Porträts der Bauernmädchen aus der Umgebung. Er schafft Skulpturen aus den Hölzern der Wälder, lässt sich vom Schweizer Kunsthandwerk inspirieren: Lise Gujer webt eine Reihe von Teppichen nach seinen Entwürfen. Noch leuchtender als in seinen Ölfarben bezirzt Kirchners Regenbogen in diesem Wollschuss.

Kirchner haucht moderner Kunst mit praller Farbpalette nie gesehenes Leben ein

Kornfeld beginnt einige Jahre nach Kirchners Tod zunächst Arbeiten aus verschiedenen Schweizer Sammlungen anzuwerben. Später kauft sie selbst die beiden Holzhäuser, in denen Kirchner und Schilling lebten. Sie zeugen vom alles durchdringenden Gestaltungswillen des Künstlers: Ins Brücke-Museum hat Kornfeld etwa auch skulptural gestaltete Stühle, eine geschnitzte Kaffeemühle und motivisch gewebte Kissen aus diesen Häusern mitgebracht. Kornfeld bewahrt auch auf, was für BiografInnen noch wichtig sein wird, zum Beispiel einen Haufen leerer Ampullen als Beleg für die schwere, Kirchners Leben prägende Morphiumsucht.

Die Anfangszeit im Schweizer Exil ist von dieser Abhängigkeit und der langwierigen Genesung geprägt. Auf Selbstbildnissen zeigt sich Kirchner mit tiefgrüner Gesichtsfarbe. Auch die Angst, wieder eingezogen zu werden, hat ihn fest im Griff. Welch Erlösung folgt nach dem Ende des Ersten Weltkrieges: Europa atmet auf und Kirchner mit. Er macht erfolgreich einen Entzug durch und wagt sich aus der Abgeschiedenheit der Berge. In Zürich lernt er die Tänzerin Nina Hard kennen. Im Sommer 1921 verbringt sie einige Zeit mit Erna und ihm in Davos. Es entstehen Fotografien und erotische Akte. Der Holzschnitt „Bohème Moderne“ von 1924, in Kornfelds Sammlung als farbig aquarellierte Version vertreten, sticht stilistisch und auch inhaltlich hervor. In auffällig heller Palette und flächig-abstrakt modelliert sieht sich Kirchner wieder inmitten der Avantgarde. In seinem reich geschmückten Haus liegt Erna nackt auf einem Diwan, Kirchner, das Gesicht blau, sitzt auf einem seiner Holzstühle, zu Gast sind der Dresdner Kunstkritiker Will Grohmann und dessen Frau.

Doch die auch im fernen Berlin gefeierte Freiheit hält nicht lange. 1933 wird Kirchner nahegelegt, aus der Preußischen Akademie der Künste auszutreten. Kirchner nimmt jetzt wieder Schmerzmittel. 1937 diffamieren die Nazis seine Kunst wie die vieler ZeitgenossInnen als „entartet“. Der für Kirchner so wichtige deutsche Markt bricht weg. Im März 1938 erfolgt nur 25 Kilometer von Davos entfernt der Anschluss Österreichs. Den nächsten Krieg wird Kirchner nicht mehr miterleben: Im Sommer 1938 nimmt sich der 58-Jährige mit zwei aus einer Pistole abgefeuerten Kugeln das Leben.

Bis 31. März 2019

www.bruecke-museum.de

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