: Traumgleiche Tragikomik
Alle Bilder fließen, und jede Metamorphose ist möglich: Hayao Miyazakis neuer Animationsfilm „Das wandelnde Schloss“ besticht durch seine zeichnerische Virtuosität und seinen Reichtum an Ideen. Der Regisseur bekräftigt damit das hohe Niveau der Animes aus dem japanischen Ghibli-Studio
VON CHRISTOPH HUBER
Ein idyllischer Landstrich unter freiem blauen Himmel beginnt zu erzittern. Auf riesigen Hühnerbeinen stakst ein reizendes Ungetüm ins Bild, eine Art Fischmenschdampfmaschine: Es ist das wandelnde Schloss, das dem Film seinen Titel gibt. Sein fülliger Körper ist aus schlecht ineinander passenden alten Gebäuden gezimmert. Türme und Erker, Dächer und Kuppeln fallen bei jedem Schritt knirschend auseinander, um sich auf geheimnisvolle Weise doch wieder neu zusammenzusetzen. Unter den Kaminen sind zwei große Kanonen angebracht, die wie Teleskop-Augen vorstehen, hinten baumelt ein Schwanz mit einer kleinen Holztür. Die Funktionsweise bleibt ein Geheimnis, es ist schließlich das Schloss eines Zauberers namens Hauro. Für die antreibende Dampfkraft sorgt ein Feuerdämon namens Calcifer, der sich bei seinem ersten Auftreten gleich darüber beschwert, dass er über die Maßen ausgebeutet wird.
In seiner Mischung aus Altertümlichem und Fantastischem, aus verblüffendem Handwerk und purer Magie ist dieses Schloss wie ein Bild für die Kunst seines Schöpfers Hayao Miyazaki: Die Produktionen seiner gemeinsam mit dem Kollegen Isao Takahata Mitte der 80er gegründeten Firma Studio Ghibli bürgen für etwas, das im Gegenwartskino rar geworden ist: eine glückvolle Koexistenz von populärer Unterhaltung und persönlicher Vision. Bei Miyazaki schlägt sich das unter anderem in einem enorm aufwändigen Produktionsprozess nieder, der noch immer – obwohl Miyazaki seit dem Historienepos „Prinzessin Mononoke“ (1997) digitale Bearbeitung zumindest zulässt – vom Charme des Handgearbeiteten geprägt ist. Der Regisseur prüft jeden von zehntausenden Kadern persönlich und lässt im Falle von Unzufriedenheit nachzeichnen. Ghibli-Filme besitzen daher eine Flüssigkeit der Animation, die sie einzigartig macht. Aber nicht nur an diesem Reichtum sind sie sofort zu erkennen, sondern auch an dem der Ideen.
„Das wandelnde Schloss“, basierend auf einem Buch der auf fantastische Jugendliteratur spezialisierten Britin Diana Wynn Jones, ist auch in dieser Hinsicht exemplarisch. Kaum ist das Schloss gezeigt worden, wird die eigentliche Hauptfigur vorgestellt: Die 18-jährige, introvertierte Hutmacherin Sophie macht einen ihrer seltenen Besuche in der Stadt, wo sie von Soldaten angesprochen wird. Ein großer blonder Jüngling nimmt sie in Schutz, und binnen kurzem geschieht Unglaubliches in der mit sorgfältigem Detailrealismus eingeführten Szenerie. Plötzlich findet sich Sophie von schattenhaften Figuren, amorphen schwarzen Batzen unter adretten Strohhüten, verfolgt, der blonde Mann rettet sie schließlich: Keine zehn Minuten des Films sind vergangen, als er mit ihr zum Lauf über die Dächer ansetzt und zur Walzermelodie über die Dächer der Stadt entschwebt.
Der Blonde ist natürlich Hauro, und Sophie hat sich den Hass einer mit ihm verfeindeten Hexe zugezogen, die über die Strohhut-Brigade gebietet. Am nächsten Morgen erwacht Sophie, belegt mit einem Fluch, von dem sie nicht sprechen kann, im Körper einer Greisin und begibt sich auf der Suche nach Hilfe zu Hauros Schloss, wo sie bald unerkannt als Haushälterin angestellt wird. Eine Art Familie – Hauro und sein kleiner Helfer (der sich eine Kapuze mit Bart über den Kopf zieht, wenn er Heiltränke verkaufen geht), der quicklebendige Feuerdämon und eine Vogelscheuche, die auf ihrem Holzbein ergeben hinterdrein hüpft – sammelt sich um Sophie, aber draußen tobt der Krieg, in dem Hauro benötigt wird, Abgesandte des Königs suchen nach ihm, während Sophie seine Liebe sucht.
Im Folgenden wird die Handlung noch um einiges komplizierter, aber Zusammenhalt garantiert bei Miyazaki weniger die narrative als eine emotionale Logik. Der Zauber seiner Welten liegt auch in ihrer Komplexität: Klare Einteilungen interessieren ihn nicht. Nicht die in der aktuellen Hollywood-Animation so angesagte Trennung in Witze für Erwachsene und Kinder: Wie Lewis Carroll, dem er nicht nur in seinem vorigen Film „Chihiros Reise ins Zauberland“ explizit huldigte, schafft Miyazaki vielmehr traumgleiche tragikomische Universen, die ganz kategorienlos alle Altersgruppen gefangen nehmen.
Völlig absurd scheint Miyazaki die Unterteilung der Figuren in Gut und Böse: Die Hexe wird später, ihrer Kräfte beraubt, auf rührende Weise in die Schlossfamilie integriert, als liebenswert senil-renitente Großmutter. So universal wie Miyazakis Humanismus ist sein Verhältnis zu Regionen: „Das wandelnde Schloss“ spielt, eher nominell als sichtlich, im Elsass, in der Originalfassung wird trotzdem selbstverständlich japanisch gesprochen. (Die deutsche Synchronisation ist sauber, kann aber mit der charakteristischen Subtilität der Ghibli-Sprecherwahl nicht konkurrieren: Insbesondere der Feuerdämon, eine der reichsten komischen Figuren im Miyazaki-Oeuvre, wird auf comic relief reduziert.)
Das ist typisch für den japanischen Regisseur, der ganz nebenbei immer wieder die internationale Film- und Kunstgeschichte zitiert und gern japanische und mediterrane Architektur vermischt: Eine seiner schönsten Arbeiten heißt „Porco Rosso“ (1992), spielt im Italien der Zwischenkriegszeit und handelt von einem wagemutigen Piloten, der unerklärter Weise ein (anthropomorphes) Schwein geworden ist. „Lieber ein Schwein als ein Faschist“, sagt er, was nebenbei Miyazakis Abneigung gegen Dogmen und Totalitarismus auf den Punkt bringt.
Als Marxisten und Traditionalisten, als Schöpfer von Öko-Parabeln oder als Antikriegsregisseur hat man ihn schon zu charakterisieren versucht, aber das greift alles zu kurz, so wie der Versuch, ihn dank der Rekorderfolge seiner Filme daheim als „japanischen Disney“ zu vermarkten. Miyazaki ist nicht bloß Entertainer mit Botschaft, er ist Philosoph. Seine Filme sind in eminent konsumierbare Form gebrachte Gedankengebäude, die ihm immer wieder zugeschriebenen Überlegungen spielen darin wichtige Rollen, aber einfache Muster lassen sich daraus nicht ableiten, das hieße seine Abgeklärtheit als Naivität zu verkennen: Aus Miyazakis Filmen spricht zwar ein unverbrüchlicher Glaube an die Größe des Menschen und an die Schönheit der Welt, aber dieser Glaube paart sich mit dem Wissen, dass Mensch wie Natur zur Grausamkeit fähig sind.
Solche Paradoxa prägen die Ghibli-Produktion: Der Konflikt zwischen Fortschrittsglaube und Natur wird in Miyazakis mit Abstand dunkelstem Werk, „Prinzessin Mononoke“, besonders explizit, er spielt an einer historischen Bruchstelle Japans, dem 14. Jahrhundert, wo die Eisenerzeugung einen Entwicklungsschub ermöglichte, zugleich aber die Loslösung vom archaischen Glauben einleitete. Bei Miyazaki zeigt sich das als schmerzhafter Prozess: Den (Tier-)Göttern bleibt nur die Wahl, wie sie sterben wollen, und die Menschen sind im Namen der Progressivität zu den atavistischsten Taten fähig. Das Fußvolk wird in den Scharmützeln dahingerafft wie am Ende von Akira Kurosawas verwandtem „Kagemusha“. Zuletzt wird unter schweren Verlusten zumindest die Chance auf einen Neubeginn, ein fragiles Gleichgewicht, erreicht.
Bei Miyazaki sind selbst die Paradiese nicht blind utopisch, sondern relativ realistisch. Das erklärt auch den nur scheinbaren ästhetischen Widerspruch zwischen wirklichkeitsnahem Zeichenstil und üppigen, vom Schintoismus geprägten Geisterwelten. In den Filmen des Agnostikers Miyazaki lebt eine pantheistische Vision. Alles ist beseelt, die Figuren müssen sich nur die Gabe bewahrt haben, das auch wahrzunehmen. In „Mein Nachbar Totoro“ (1988) mischt sich eine an Ozus realistische Familienfilme erinnernde Erzählung mit einer Fabel von Waldgeistern. Eine Schlüsselszene vom Treffen dieser Welten spielt an einem der alltäglichsten Orte: einer Bushaltestelle, wo ein Mädchen und der Titelheld, ein unwiderstehliches, riesiges Kuschelmonster, nebeneinander zu stehen kommen. Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
In den realistischeren Filmen von Isao Takahata kommt die Detailgenauigkeit noch stärker zur Geltung, auch das japanisch-spirituelle Element des im Zusammenhang mit Ozu immer wieder beschworenen „mono no aware“, der Traurigkeit über den unvermeidlichen Lauf der Dinge: Sein erschütterndes Ghibli-Debüt „Die letzten Glühwürmchen (1989) erzählt nach einem klassischen japanischen Roman von zwei Kindern, die während des Zweiten Weltkriegs langsam verhungern. Der tragische Ausgang wird zu Anfang vorweggenommen, wenn man beide als Geister sieht. Gerade das Wissen um die Aussichtslosigkeit gibt ihrem Kampf ums Überleben kathartische Kraft. Die Gesten menschlicher Zuneigung erhalten erhöhtes Gewicht. Es ist kein Heldenlied über humane Ausdauer, sondern ein Film über die menschliche Gabe zu lieben.
Davon erzählt auch Miyazaki, obwohl er nie einen so niederschmetternden Schluss wie Takahata zuließ. Seine Figuren schwingen sich immer wieder zu lichten Höhen auf, das Fliegen ist ein Schlüsselmotiv, das auch als Kontrapunkt zum irdischen Unglück dient (nur in „Prinzessin Mononoke“ gibt es dieses Gegengewicht pointierterweise nicht). Diese Dialektik kommt im ungewohnt hochrasanten Finale von „Das wandelnde Schloss“ zum Höhepunkt, ebenso wie Miyazakis Gabe, den Lauf der Dinge, dank der Animation paradox „natürlich“, in konstante Veränderung zu übersetzen: Der ständige Wandel von Erscheinungsbildern und Alter – Sophie sieht im Verlauf des Films manchmal plötzlich wieder wie 18 aus, manchmal wie 80, und manchmal mischen sich die beiden Zustände auf wundersame Weise (auch Altersweisheit und jugendliche Unvernunft sind bei Miyazaki keine Gegensätze) – wird da dynamisch beschleunigt, und angesteuert wird ein zentrales Bild für die Empathie, die Miyazakis Universum prägt, und für den Ursprung aller Träume: ein flammendes Herz.
„Das wandelnde Schloss“, Regie: Hayao Miyazaki, Animationsfilm, Japan 2004, 117 Min.
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