„Katastrophe für ganz Spanien“

Gespräch im Gefängnis: Jordi Cuixart vom Kulturverein Òmnium über politische Perspektiven Spaniens und Kataloniens

Foto: Yves Herman/reuters

Interview Reiner Wandler, Haftanstalt Lledoners

taz: Herr Cuixart, Sie sind seit 14 Monaten in Untersuchungshaft. Wie geht es Ihnen?

Jordi Cuixart: Dafür, dass ich eingesperrt bin, gut. Ich fühle mich geistig frei und bin zufrieden mit mir selbst. Das ist wichtig. Ich bin hier, weil ich gegen die Einschränkung der Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten im heutigen Spanien demonstriert habe.

Wie sieht Ihr Leben hier aus?

Haft heißt vor allem Routine, die es zu brechen und zu füllen gilt. Ich meditiere, arbeite in der Töpferwerkstatt, treibe Sport. Ich schreibe, beantworte schriftliche Interviews und lese viel. Ich mache auch meine Arbeit als Vorsitzender von Òmnium Cultural weiter, soweit das geht. Zudem pflege ich Sozialkontakte, sowohl mit den restlichen politischen Gefangenen als auch mit den sozialen Gefangenen. Die Kontakte nach draußen sind sehr eingeschränkt. Wir dürfen nur sechs Mal die Woche für jeweils acht Minuten telefonieren; einmal die Woche mit Trennscheibe Besuch empfangen; zwei Mal im Monat von Frau und Kind in einem Zimmer ohne Trennscheibe und Überwachung.

Was vermissen Sie am meisten?

Meinen 20 Monate alten Sohn Amat. In den letzten 400 Tagen habe ich ihn zusammengerechnet gerade einmal vier Tage um mich gehabt. Und dafür musste er mit meiner Frau erst nach Madrid und jetzt hier her reisen. Das waren bisher 50.000 Kilometer. Ich frage mich, was für ein schweres Verbrechen habe ich begangen, damit mein Sohn so etwas durchmachen muss?

Ganz einfach: Aufstand und Rebellion.

So steht es in der Anklageschrift. Aber für Rebellion ist Waffengewalt notwendig, und für Aufstand braucht es auch gewalttätiges, organisiertes Vorgehen. Es gab keine Gewalt und wir haben auch nie zur Gewalt gerufen, ganz im Gegenteil. Wir haben nur das Recht auf Meinungsfreiheit und auf Demonstrationsfreiheit verteidigt. Es gibt kein Gesetz, das die Organisierung eines Referendums oder die Teilnahme daran unter Strafe stellt. Das Verfassungsgericht kann eine solche Befragung untersagen, eine Straftat ist es dennoch nicht.

Sie plädieren also auf unschuldig?

Wir fordern Freispruch. Das ganze ist juristisch nicht haltbar. Was mit am meisten Sorgen bereitet, ist die Haltung der großen Parteien des Landes und der Monarchie. Sie unterstützen dieses juristisch fragwürdige Konstrukt. Wir sollen um jeden Preis zu langen Haftstrafen verurteilt werden. Die Forderung, nach dem Recht über die Zukunft Kataloniens zu entscheiden, soll kriminalisiert werden. Sie wollen der Bevölkerung Angst machen.

Sie glauben also fest an einen Schuldspruch?

Unsere Rechte wurden während des gesamten Untersuchungsverfahrens verletzt, warum soll das jetzt beim Hauptverfahren anders sein? Was hier in Spanien geschieht ist – in kleinerem Maßstab – das gleiche wie in der Türkei. Hier werden mit dem sogenannten Knebelgesetz mittlerweile 20.000 Menschen verfolgt. Rapper für ihre Texte, Twitteraktivisten für ihre Nachrichten, Puppenspieler wegen ihrer Stücke … Vor wenigen Tagen wurden gar die Computer und Handys von Journalisten auf Mallorca beschlagnahmt, weil sie einen Korruptionsfall recherchierten und sich weigerten, ihre Quellen preiszugeben. Die Freiheiten in Spanien haben in den letzten Jahren schweren Schaden erlitten.

Wie weit darf ziviler Ungehorsam gehen?

Der zivile Ungehorsam muss gewaltfrei sein, und er muss dem Allgemeininteresse dienen. Geht es gegen ungerechte Gesetzte oder gegen ungerechte richterliche Entscheidungen, dann ist der Ungehorsam gerechtfertigt.

Vier Ihrer Mitgefangenen sind im Hungerstreik, weil das Verfassungsgericht die Beschwerden, die sie eingelegt haben, nur zögerlich bearbeitet. Warum nehmen Sie nicht teil?

Das Hauptverfahren gegen 18 angeklagte Unabhängigkeitsbefürworter, zu denen auch Jordi Cuixart gehört, hat am Dienstag mit einer Anhörung zu Verfahrensfragen begonnen. Die Verteidiger sehen den Obersten Gerichtshof in Madrid als nicht zuständig an. Sie wollen, dass vor dem höchsten Gericht der Region Katalonien verhandelt wird. Ihr Antrag wird aller Voraussicht nach abgelehnt.

Auch politisch spitzt sich der Konflikt weiter zu. Am Freitag wird die spanische Regierung unter dem Sozialisten Pedro Sánchez eine Kabinettssitzung in Barcelona abhalten. Die Unabhängigkeitsbewegung hat Proteste angekündigt. (rw)

Wir von Òmnium unterstützen die Hungerstreikenden, glauben aber, dass ein Monat vor dem Hauptverfahren nicht der richtige Zeitpunkt für eine solche Aktion ist.

Heißt das, dass Sie später sehr wohl einen Hungerstreik in Erwägung ziehen könnten?

Ja. Aber dann unbefristet und mit allen Konsequenzen.

Neun Inhaftierte, sieben im Ausland, 18 Angeklagte, mehrere hundert Ermittlungsverfahren wegen Durchführung der Abstimmung … War es das wert?

Würden Sie das gleiche die Widerstandskämpfer gegen den Faschismus fragen? Würden Sie Rosa Luxemburg, Václav Havel oder Lech Walesa fragen, ob es für etwas gut war, dass sie ins Gefängnis mussten? Wir kämpfen für die selben Ziele wie sie. Es geht nicht nur um die Unabhängigkeit, sondern um Bürgerrechte in Katalonien, Spanien und Europa. Das Verfahren gegen uns wird Auswirkungen auf die Rechte und Freiheiten für alle Bürger in Spanien in den kommenden Jahren haben.

Aber die Unabhängigkeit ist soweit entfernt wie zuvor.

Es ist wichtig, die Debatte zu zentrieren. Wo steht geschrieben, dass die Katalanen nicht das gleiche Recht haben über ihre Zukunft zu entscheiden, wie etwa die Schotten? Ist das ein göttliches Gesetz? Sind wir etwa für immer Minderjährige? Wer hat das Recht dies zu entscheiden. In Europa werden Konflikte an den Urnen gelöst, warum nicht hier? Die Regierung in Madrid ist nicht in der Lage und Willens, den Konflikt politisch zu lösen. Sie haben Katalonien eine Zeit lang unter Zwangsverwaltung gestellt, die eigene Wirtschaft boykottiert. Das Ganze ist nicht nur für Katalonien eine Katastrophe, sondern für ganz Spanien.

Warum bestehen Sie auf der Unabhängigkeit?

Katalonien ist eine der reichsten Regionen Europas und gleichzeitig haben wir eine der größten Armutsraten. Was Katalonien an den spanischen Staat abführt, entspricht dem, was Hessen, Baden-Württemberg und Bayern zusammen abführen. Über 100 soziale Gesetze des katalanischen Parlaments – etwa gegen Energiearmut und Zwangsräumungen – wurden vom spanischen Verfassungsgericht annulliert. Solange das so ist, werden wir unsere sozialen Probleme nicht lösen können. Darum geht es und nicht um Fahnen.

Im restlichen Spanien werfen Ihnen viele vor, dass Sie die alten Gespenster wieder heraufbeschworen haben. Die rechtsradikale VOX erhält dank einer harten zentralstaatlichen Linie immer mehr Zulauf.

Wie sagt Rosa Luxemburg: „Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht.“ Es ist schäbig uns zu beschuldigen, dass wir die faschistische Bestie geschaffen haben. Sie war immer da. Wir Katalanen sind die ersten Opfer des Faschismus. In Europa wurde nur ein demokratisch gewählter, amtierender Präsident hingerichtet. Das war 1940 der Katalane Lluis Companys, nachdem ihn die Gestapo an Franco ausgeliefert hat. Wir fordern Solidarität statt Vorhaltungen.

Jorgi Cuixart, 43, (auf dem Poster):

Der ­Vorsitzende der ­katalanischen Kultur­vereinigung Òmnium Cultural sitzt seit 16. Oktober 2017 in Unter­suchungshaft. Ihm wird im Zusammenhang mit Kataloniens Unab­hängigkeits­referendum am 1. Oktober 2017 Rebellion und Aufstand vorgeworfen

Nach dem Regierungswechsel in Madrid im Juni sah alles nach Tauwetter aus. Jetzt kommen wieder harte Worte auf beiden Seiten. Was ist schief gelaufen?

Wir wollen Taten sehen und die blieben bisher aus. Ich bin mir sicher, dass es bei den regierenden Sozialisten viele gibt, die eine politische Lösung wollen. Aber es gibt auch andere, die das torpedieren. Zum Beispiel der Außenminister Josep Borrell, der auf den Demonstrationen für die Einheit Spaniens sprach. Dort waren auch Faschisten mit ihren Fahnen anwesend. Können Sie sich einen SPD-Minister vorstellen, der vor Hakenkreuzfahnen spricht?

Was wird die Zukunft für Katalonien bringen?

Kurzfristig bin ich wenig optimistisch. Die Pattsituation wird weiter bestehen. Mittel­fristig werden wir uns zusammensetzen müssen, um den Konflikt politisch zu regeln. Und langfristig wird sich zeigen, dass sich im 21. Jahrhundert niemand über den anderen stellen kann. Der Feudalismus im Mittelalter wurde bezwungen, ebenso die autoritären Regime in Europa im vergangenen ­Jahrhundert. Spanien wird die Monarchie bezwingen. Dann wird Katalonien das sein, was die Katalanen wollen.

Und Ihre eigene Zukunft?

Im Gefängnis. Aber das beunruhigt mich nicht. Mein vorrangiges Ziel ist es nicht, frei zu kommen, sondern den politischen Konflikt zu lösen. Ich weiß, dass ich meinen Sohn noch lange nicht um mich haben werde. Aber das größte Geschenk, das ich ihm machen kann, ist der Kampf für Rechte und Freiheiten in Europa.