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Die altenund die neuen Brinkebüller

Die Zeit der Bauern ist zu Ende, jetzt übernehmen die Zugezogenen: Dörte Hansens Dorfroman „Mittagsstunde“ ist voller Witz, aber auch todernst. Und alles stimmt darin

Von Helmut Höge

Der niederländische Schriftsteller Geert Mak veröffentlichte 1999 eine mikrosoziologische Studie über das westfriesische Dorf „Jorwerd“, die beispielhaft den „Untergang des Dorfes in Europa“ behandelte. 2018 hat die Husumer Schriftstellerin Dörte Hansen mit großer halluzinatorischer Sicherheit ein nordfriesisches Dorf, Brinkebüll, porträtiert, von der Nachkriegszeit bis heute. Ihr Roman beginnt bereits mit dem Untergang – dem „Ünnergang“, wie es in dem fein mit Plattdeutsch abgeschmeckten Text heißt.

Aber im Gegensatz zum vergrübelten Altlinken Mak hat die 1964 geborene Husumer Linguistin den Untergang als einen Transformationsprozess aufgefasst, als das, was man in der EU-Landwirtschaftspolitik einen „Strukturwandel“ nennt. Den ersten gravierenden Wandel für das Dorf bewirkte die „Flurbereinigung“ in den sechziger Jahren, alles wurde „eckig und gestutzt“ (sogar die Haarschnitte der Mädchen), den zweiten die zum Rasen verleitende Verbreiterung und Asphaltierung der Durchgangsstraße, der die alten Kastanienbäume zum Opfer fielen.

Es sei daran erinnert, dass es der Husumer Soziologe Ferdinand Tönnies war, der 1887 friesisch inspiriert zwischen „Gemeinschaft und Gesellschaft“ unterschied. Jene wurde sukzessive von dieser aufgesogen. In den friesischen Dörfern (wiewohl Jorwerd eine reiche Marschsiedlung war und Brinkebüll eine arme Geestsiedlung ist) bleiben nach allem „Wachsen oder Weichen“ nur ein paar Agrarbetriebsleiter und die Dorfkneipe übrig, wo die Geschichten zusammenkommen und auseinanderdriften.

In Dörte Hansens Soziotop ist die Kneipe mit Tanzsaal und Fremdenzimmer der zentrale Ort, das Wirts­ehepaar mit Tochter und Enkel sind die Hauptpersonen. In gewisser Weise gilt das auch für Maks Dorf Jorwerd und die Kneipe „Het Wapen van Baarderadeel“, vor allem jedoch für Kai Wielands schwäbische Dorf-„Chronik“ mit dem Titel „Amerika“ (2018), wo die Dorfkneipe ein Hotel ist, für Norbert Scheuers Geschichten aus der Kneipe „Arimand“ in seinem Dorfroman „Kall, Eifel“ (2005) und für Josef Bierbichlers Dorfroman „Mittelreich“ (2011), in dessen Zentrum eine bayrische Seewirtschaft steht.

Hieran erkennt man bereits, dass sich aus dem von Mak registrierten „Untergang des Dorfes“, auf seinem Mist sozusagen, eine üppige Dorfromanproduktion entwickelt hat – mit einem Bestseller nach dem anderen. Daneben gibt es noch die mindestens ebenso erfolgreichen „Dorfkrimis“. Zusammen mit den „Dorffilmen“ (wie „Heimat“ von Edgar Reitz) könnte man glatt von einem Reenactment sprechen. In Dörte Hansens Roman gibt es tatsächlich einen Professor, bei den Frühgeschichtlern an der Uni Kiel, der bei solchen Inszenierungen, experimentelle Archäologie genannt, mitmacht. Er kommt aber nur über seinen Institutskollegen, dessen Familie die Dorfkneipe betreibt, kurz ins Spiel.

In Brinkebüll selbst werden die schon fast vergessenen alten Tätigkeiten (wie Schafwollespinnen und -weiterverarbeiten) von einigen aus Berlin in die leerstehende Dorfmühle gezogenen Linken reenacted. Aber jetzt nicht mehr als Gewerbe, sondern eher als Kunst. Die neuen Brinkebüller wollen in die Natur; die alten wollen raus aus der Natur, sie haben sich lange genug damit geschunden. Das sei, so Dörte Hansen, das „große Missverständnis“ zwischen ihnen.

An der Schwelle zum Neuen

Die neuen Mühlenbesitzer, die ihr Kind in die noch immer einklassige Dorfschule schicken, stehen schon an der Schwelle zu einer möglicherweise neuen Gemeinschaft auf den Trümmern der alten. Die Zertrümmerung, das sieht die friesische Autorin positiv, entsteht dadurch, dass nach und nach die Jüngeren nicht mehr „im Kreis“ (der Jahreszeiten) denken, sondern „geradeaus“; sie übernehmen nicht mehr einfach die Existenzweisen ihrer Eltern und führen sie weiter, sie wollen ihr Leben selbst gestalten, wie man so sagt.

Dörte Hansen: „Mittagsstunde“. Penguin, München 2018, 320 Seiten, 22 Euro

In Maks Jorwerd war dies 1999 noch vorwiegend negativ konnotiert: „Alle machen Pläne und Projekte – haltlose, realistische, verrückte, harmlose und gefährliche“ – vom Yachthafen und Windkraftanlagen über Agrofarmen und Haustierrasseparks zum Anfassen bis zu Reiterferien, während man gleichzeitig eine Partnertherapie macht.“ An der Universität Halle-Wittenberg werden solche „Projekte“ inzwischen in einem „Forschungsprojekt“ erforscht, es heißt „Experimentierfeld Dorf“.

In Brinkebüll ist es jemand, der ein Alpaka-Zuchtprojekt beginnt, und eine Gruppe, in der Mehrzahl Frauen, die amerikanische Tänze und Kostüme aufführt. Ihr Tanzlehrer pachtet schließlich die Dorfkneipe, in der sie so lange geübt haben, und macht daraus einen Country-Saloon – nachdem der Wirt gestorben, seine Frau in ein Altersheim gekommen, ihre Tochter verschwunden und ihr angenommener Sohn wieder an die Uni Kiel zurückgekehrt ist.

Was die einen mit der Kneipe machen oder mit ihrem „Resthof“, den sie mit früher weggeworfenen Dingen schmücken, machen andere aus Brinkebüll mit ihrem Revier: „Im Grunde war die Jägerschaft am Ende. Die Jägerinnen hatten bei der letzten Vorstandswahl die meisten Posten unter sich verteilt“ – und ihren Verein umpositioniert: „Statt Abschüsse zu machen und bei der Treibjagd eine gute Strecke hinzulegen, wurde neuerdings nur noch gehegt, gepflegt, gefüttert. Das Revier verkam zu einem Streichelzoo.“

Diese Kritik hat die Autorin dem Wirt in den Mund gelegt, ob sie diese teilen würde, ist schwer zu sagen. Immerhin stellt sie den Sohn des dicksten Bauern im Dorf, der einen Mercedes fährt, auf dem er ein Schild „Landwirtschaft dient allen“ klebte, als derart zart besaitet dar, dass er nie wieder auf einen Mähdrescher stieg, nachdem er damit ein Rehkitz im Kornfeld zerstückelt hatte. Derselbe Unfall ereignet sich im Übrigen auch in dem Dorfroman „Niemand ist bei den Kälbern“ (2017) von Alina Helbig.

In Dörte Hansens Brinkebüll sind die alten Dorfstrukturen, die Gewohnheiten der „Dörpsminschen“, gerade noch so gefestigt, dass sie den kleinen Kindern und den Neuhinzugezogenen beibringen können, in der „Mittagsstunde“ keinen Krach zu machen, denn in ganz Friesland herrscht von zwölf bis drei Uhr Ruhe, alles hat zu, auch in der Touristensaison, nur Dönerbuden und ähnlich neumodisches Zeug halten sich nicht daran. Aber „die Zeit der Bauern ging zu Ende“ – und damit wohl auch dieses friesische Identitätsmerkmal. Der Roman heißt deswegen „Mittagsstunde“.

Der Wind ist noch der alte

Mittags ist zu, auch in der Touristensaison, nur Dönerbudenund ähnlich neumodisches Zeug halten sich nicht daran

Immer wieder kommt die Autorin auf die von der Eiszeit geformte Landschaft zurück, zumal ihr Protagonist ja ein Archäologe ist, ein geduldiger „Altmoränenmensch“ noch dazu; und der letzte Lehrer der Dorfschule ein engagierter Sammler von Steinzeit-Resten, Mitglied der „Gesellschaft für Geschiebekunde“. Er rettete das Hünengrab vor der Planierung durch die Bagger der Flurbereinigungs-Truppe.

Apropos: Wer damals seine Landwirtschaft abgab, wurde Zivilangestellter in einer der vielen während des Kalten Krieges in Nordfriesland entstehenden Militäreinrichtungen – „man nannte sie die ‚Bauernauffanglager‘“. Vom nahen Fliegerhorst starteten bald täglich Düsenjager der Bundeswehr zu Übungsflügen über das Dorf. Man war als Hausmeister oder Kantinenköchin beim „Bund“ nicht mehr vom Wetter abhängig, dieses hatte sich desungeachtet in und um Brinkebüll noch nicht wesentlich geändert: Es regnete auch weiterhin ständig und „der Wind war immer noch der alte. Er schliff die Steine ab und knickte Bäume, beugte Rücken.“ Und zwar derart, dass Dörte Hansen im letzten Satz ihres Romans zu dem Schluss kommt: „Es ging hier gar nicht um das bisschen Mensch.“

Ihr Buch hat mich so begeistert, dass ich es zwei Mal gelesen habe, es ist voller Witz, aber todernst, und alles stimmt darin, soll heißen, dass ich all die in dem Buch erzählten kleinen und großen Entwicklungen selbst in einem norddeutschen Moordorf erlebt habe (als es immer weniger Bauern gab, aber die Traktorreifen immer größer wurden, als der Schmied nicht mehr mit der Agrotechnik mitkam und aufgab, als der Dorfladen immer erbärmlicher wurde und zumachte, als die Jugend ihren Führerschein machte und im Suff mit dem Wagen ihres Vaters „aus der Kurve getragen“ wurde, als aus dem Tanzsaal der Kneipe freitags eine Diskothek wurde, als die zugezogenen Städter und sonstigen Pendler die Mehrheit im Dorf bildeten …).

Von Berlin aus nicht mehr mitbekommen habe ich einen „Dorfkulturverein“, der im Roman Hinweisschilder „Zum Hünengrab“ anbringt, „Windkraftanlagen“, die immer mehr und höher werden und ebenso verhasst sind wie der sich pestilenzartig ausbreitende Maisanbau, den „Storchenschutzverein“, der Storchennester aufstellte, um sie wieder anzusiedeln, und „Renaturierungs-Arbeitskreise“, die Teile der alten Moor- und Heidelandschaft wiederherstellen.

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