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Die Gerüste und ihre Geschichte

Bezüge über Bezüge: Sofia Hulténs Ausstellung „Unstable Fakers of Change in Self“ mit Baugerüsten und Videoscreens betont das Prozesshafte und fordert den Besucher auf zu ergründen, wie das alles zusammenhängt

Sofia Hultén, „Unstable Fakers of Change in Self“, 2018. Installationsansicht im Maschinenhaus M0, Kindl – Zentrum für Zeitgenössische Kunst Foto: Jens Ziehe

Von Lorina Speder

Es raschelt und es klimpert im Maschinenhaus des Kindl – Zentrum für zeitgenössische Kunst. Die Sounds kommen von Videos, die auf Flachbildschirmen an neun Baugerüsten im Raum verteilt sind. Die schwedische Bildhauerin Sofia Hultén zeigt im Kunstzentrum eine dann doch sehr geordnete Baustelle aus Gerüstinseln, zwischen denen man sich bewegen kann und dabei instinktiv anfängt, sie miteinander zu vergleichen.

Da fallen einem zum Beispiel die blauen Baunetze, die lilafarbenen Rundschlingen, die Blecheimer oder Kabelbinder an den großen Gerüsten auf, die mal aufgespannt oder hängend gelagert sind, in seltenen Fällen aber auch mal ganz fehlen.

In ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung in Berlin baut Hultén Verbindungen zwischen den Bauutensilien und den Videos an den Gerüsten auf. Sie lenkt den Blick des Betrachters durch die Videoscreens besonders auf die Details.

Die Künstlerin, die seit Kurzem eine Professur für Bildhauerei an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig innehat, spielt mit der Wahrnehmung der Besucher. Ihre Arbeit aus diesem Jahr heißt „Un­stable Fakers of Change in Self“. In den Videos meint man die Dokumentation von Arbeiten am Werk wie das Aufsprühen von rostroter Farbe an den Gerüststangen oder das Erstellen kreisrunder Markierungen auf ebendiesen zu erkennen. Das meiste, was in den Videos angedeutet wird, findet man auch am Werk im Raum vor.

Doch was dabei „Fake“ ist, wie es der Titel vorschlägt, kann man sich nur zusammenreimen. In einem Video zum Beispiel stopfen zwei Hände ein blaues Netz in einen Blecheimer und verschließen diesen danach fest. Ob das die Vorgeschichte zum Gerüst ohne Netz nebenan ist oder Hultén den Betrachter in die Irre führen möchte, würde man gern selbst überprüfen. Das Verlangen, Hulténs Videonarration nachzugehen und einfach in den Blecheimer hereinzuschauen, erzeugt eine Reibung, der man hilflos mit Distanz zum Kunstwerk und unter dem Blick des aufmerksamen Aufpassers ausgesetzt ist. Zur Prozesshaftigkeit, die Hulténs Arbeit suggeriert, kommt noch hinzu, dass sich die Wahlberlinerin in ihrem Werktitel den Anfangsbuchstaben von Umberto Boccionis Bronzeplastik „Unique Forms of Continuity in Space“ bedient. Auch die einzelnen Gerüste tragen Titel mit denselben Anfangsbuchstaben. Die Plastik des italienischen Futuristen von 1913, die man durch ihre Abbildung auf der italienischen 20-Cent-Münze kennt, sollte damals die Geschwindigkeit im Raum darstellen. Boccioni, der in seinen Schriften Rückschau und Vergangenheitskult ablehnt, pflegte eine große Fortschrittsbegeisterung.

Dass man sich daran erinnert, stellt Hultén in der geschickten Verteilung der 20-Cent-Münze sicher. Die Münze ist es, die in einem Ausstellungsvideo alle paar Sekunden klimpert, weil eine Hand sie immer wieder wie einen Kreisel rotieren lässt, bis sie flach und geräuschvoll auf einen Blecheimer fällt. Neben dem akustischen Signal findet man auf einem benachbarten Blecheimer im Ausstellungsraum gleich neun 20-Cent-Münzen, die mit Boccionis Motiv nach oben schauen. Auch die kreisrunden Auslassungen der rostfarbenen Sprühfarbe auf einem weiteren Gerüst stammen von italienischen 20-Cent-Münzen, glaubt man Hulténs Video.

Das Spiel mit Umberto Boccionis Bronzeplastik

Im Moment, im Jetzt

Die Verbindung zu Umberto Boccioni gibt Hulténs Videos eine neue Ebene an Möglichkeiten – vielleicht schauen die Videos gar nicht zurück auf den Produktionsprozess, sondern bilden eine ganz unabhängige Zeitebene ab. Läuft man um die Gerüste herum, scheint diese Variante immer mehr in Betracht zu kommen. Denn ob die Videos nun inszeniert sind und wann sie entstanden sein könnten, ist vielleicht gar nicht so wichtig. Es zählt, dass sie im Moment, also im Jetzt, gezeigt werden. Durch das Medium Video und die Bewegung in den Sequenzen erzeugen sie einen Kontrast zu den sonst starren und schweren Gerüsten im Raum.

Mit diesem Wink an die Futuristen, die in ihrem Manifest vor knapp 100 Jahren von der „Schönheit der Geschwindigkeit“ sprechen, schafft es die Künstlerin gleichzeitig Fortschritt, Rückschritt und das Jetzt symbolisch darzustellen – je nachdem, für welchen Bezug sich die BesucherInnen entscheiden. Alles scheint offen, alles scheint möglich.

Kindl, Am Sudhaus 3, Neukölln, bis 31. März 2019

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