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Over the Rainbow ist die Freiheit groß

Die Komische Oper in Berlin hat das wohl berühmteste Märchenbuch der USA in eine moderne Oper verwandelt. Bei „Der Zauber von Oz“ können Familien mit Kindern ab 6 Jahren das junge Mädchen Dorothy auf einer psychedelischen Odyssee begleiten

Von Sylvia Prahl

Aufgeregtes Gewusel im Foyer, die Nachfrage nach Sitzerhöhungen ist groß, mindestens die Hälfte des herausgeputzten Publikums, das an diesem eisengrauen Sonntagmorgen in die Komische Oper gekommen ist, hat die 1,50-m-Marke noch nicht erreicht. Auf dem Programm steht „Der Zauberer von Oz“. Der italienische Komponist Pierangelo Valtinoni hat das 1900 in den USA erschienene Kinderbuch von Lyman Frank Baum in eine Märchenoper mit zwei Akten verwandelt.

Die Kinder im Vorschulalter, ihre älteren Geschwister, Eltern, Omas und Opis fühlen sich wohl im barocken Saal, der üppig mit musizierenden Putten, blinkenden Kronleuchtern und gülden glitzernden Spiegeln verziert ist. Die Stimmung ist aufgekratzt, Familien-Selfies werden gemacht, es fehlen eigentlich nur noch die Picknickkörbe.

Als die Instrumente fertig gestimmt sind und sich der schwere rote Samtvorhang lichtet, folgt erwartungsfrohe Stille. Eine riesige altmodische Postkarte mit weißem Schmuckrand ist auf eine Gaze-Leinwand projiziert, aber das Motiv, die weiten Kornfelder von Kansas, sind nicht starr, die Halme wiegen sich im Wind. Während der fröhlichen, von Querflöten dominierten Ouvertüre spielt das Mädchen Dorothy mit Hund Toto vor einem windschiefen Haus – ein entzücktes Raunen geht durch den Saal: der Hund ist echt! – und hilft Onkel Henry und Tante Emmy bei der harten Arbeit. Da packt der Wirbelsturm das Haus, per Videoprojektion trudelt es über einen Regenbogen und landet im fernen Land Oz, erschlägt dort die böse Hexe des Ostens. Ihre stämmigen, in silbernen Schuhen steckenden Pappmaschee-Beine ragen unter dem Haus hervor. Die in einem mit beachtlichem Hüftspeck ausgepolsterten Glitzerfummel steckende gute Hexe des Nordens – Mirka Wagner wickelt das Publikum mit Schmelz um den Finger – schickt Dorothy zum Zauberer von Oz, der ihr angeblich als Einziger den Weg zurück nach Kansas weisen kann.

Sopranistin Alma Sadé ist in ihrer Kittelschürze ganz selbstverständlich mal ein gewitztes, mal ein staunendes, mal ein trauriges Mädchen, mit ihrer Körpersprache macht sie akustisch nicht zu verstehende Textpassagen verständlich. Mitunter sind die Texte allzu sehr der linearen Erzählung verpflichtet und wirken etwas spröde. An anderen Stellen hat Hanna Francesconi für ihre deutsche Textfassung eine stoffliche Umgangssprache gewählt: „Sie ist platt wie eine Flunder, dass sie tot ist, ist ein Wunder“, singen die Munchkins erfreut – beeindruckend homogen: der Kinderchor der Komischen Oper –, weil ihre Knechtschaft unter der bösen Hexe des Ostens nun vorbei ist. Christoph Späth ist als Vogelscheuche, die gern statt Stroh Hirn unterm Hut hätte, herrlich staksig, vermengt in seinem Part Verzweiflung mit Klamauk, wenn er singt „Das Leben ist nix, wenn man nix auf dem Kasten hat“, und dazu ständig hinfällt.

Mit von der Musik plastisch hörbar gemachten quietschenden Gelenken und geölter Stimme wünscht sich Tom Erik Lie als Blechmann ein Herz, und als feiger Löwe, der gern mutig wäre, erregt Carsten Sabrowski erst Mitleid und erntet Szenenapplaus, als er unvorhergesehen Mut beweist. Seine Macho-Löwenmähne bringt im Kontrast mit seinem Möchtegern-Aufschneider-Outfit sein Dilemma gut zur Geltung.

Kulissen und Kostüme sind ein Augenschmaus, in der grünen Smaragdstadt ragen die Häuser bedrohlich konisch zulaufend wie in einer Zeichnung von M. C. Escher in den Himmel, die grünen Kleider der Smaragdstadtbewohner wie auch die der Mäuse oder der Munchkins sind detailverliebt, individuell und doch perfekt aufeinander abgestimmt, die Mäusekönigin sieht aus wie Queen Mum und die mächtige Niedertracht der bösen Hexe des Westens illustriert Christiane Oertel nicht nur mit ihrer dämonischen Stimme, sondern auch mit ihrem immer üppiger werdenden Rock, als sie an einem unsichtbaren Seil in die Luft schwebt.

Dass Kinderopern an der Komischen Oper genauso opulent und raffiniert inszeniert werden wie für ein erwachsenes Publikum, hat Tradition. Die Kinder goutieren das Ernstgenommenwerden mit gebannter Aufmerksamkeit bis zum Schluss. Die Bilder flackern noch lange vor dem inneren Auge, doch einen Ohrwurm, der sich in den Gehörgängen festsetzen könnte, gibt es nicht. Das wird besonders deutlich, wenn am Tor der Smaragdstadt als Klingelton kurz „Over the Rainbow“ aus der epochalen Musicalverfilmung mit Judy Garland von 1939 zitiert wird. „Der Zauberer von Oz“ – es ist nach „Pinocchio“ und „Die Schneekönigen“ die dritte Oper Valtinonis an der Komischen Oper – ist musikalisch abwechslungsreich, sehr rhythmisch, changiert zwischen klassischer Oper und jazzigem Musical. Das genügt für den Moment. Am Ende ist das Publikum begeistert, klatscht und bejubelt Orchester und Darsteller.

Statt eines Programmhefts lässt sich das Hörbuch zur Oper erwerben. In einem 32-seitigen Bilderbuch skizziert die Berliner Künstlerin Anne Hofmann die Story vom „Zauberer von Oz“, versehen mit bunten, charaktervollen Illustrationen, die die buchstäblich fabelhafte Stimmung des „Zauberers“ einfangen, aber vom Stil des Bühnenbilds der Inszenierung in der Komischen Oper grundverschieden sind.

Die Solisten und Chöre hingegen sind dieselben wie in der Inszenierung, ihre Parts werden statt vom Orchester vom Klavier begleitet, wodurch die Oper den Anstrich eines klassischen Liederzyklus bekommt. In der eigens für die Hörversion eingerichteten Textfassung, die sich nah an Lyman Frank Baums Erzählung orientiert, erzählt Eva Mattes die Geschichte. Ihre samten luzide Stimme lässt Raum für Geheimnisse und gibt zugleich Sicherheit. In der Bühnenversion ist der sagenhafte Zauberer nach seiner Enttarnung froh, endlich wieder ein normaler Mensch ohne magisch-mystische Zuschreibungen sein zu dürfen.

Dass er eigentlich gar keine Rolle spielt, zeigt sich auch darin, dass er keine einzige Gesangspassage hat. Die Hörbuchfassung treibt diesen Tatbestand auf die Spitze. Hier taucht er überhaupt nicht auf. Im Mittelpunkt steht dafür die Erkenntnis, dass alles schon in einem steckt, man aber an sich glauben muss, um eigene Potenziale erkennen und nutzen zu können. Und dass man alleine sowieso verloren ist.

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