: Kultur-leistung Sauermilch
Das Künstlerkollektiv „Slavs and Tatars“ zeigt im Kunstverein Hannover die Ergebnisse seiner Beschäftigung mit Eurasien: Das reicht von neuer Kleidung für vernachlässigte Philosophen bis zur Ayran-Bar
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Von Bettina Maria Brosowsky
Was haben Jeans und Gin, aber auch das russische жена(Ehefrau) und das französische jalousie (Eifersucht) gemeinsam? Es ist der stimmhafte, wenngleich verschieden stark erweichte Anlaut, für den es im Deutschen keine Entsprechung gibt. Hier wird sich, mehr schlecht denn recht, mit den vier Konsonanten „Dsch“ beholfen. So etwa bei den Transkriptionen Dschungel, Dschingis Khan oder auch: Dschihad. Diese phonetische Migration ist ganz nach dem Geschmack des Künstlerkollektivs „Slavs and Tatars“, das derzeit im Kunstverein Hannover eine Ausstellung bestreitet.
Ausgehend von Phänomenen der Sprache, ihrer Beherrschung und semantischen Interpretation wie auch der Diffusion in andere kulturelle Systeme spannt sich ein Bogen von der Deutungshoheit über Vokale und Konsonanten zu der über Dinge und soziale Regulative, die als normative Definitionen immer eine Form der Machtausübung darstellen. Und die es zu hinterfragen gilt.
Was eher theoretisch und dröge klingt, zudem in zahlreichen Künstlerbüchern des Kollektivs bereits weidlich exzerpiert wurde, erweist sich vor Ort als humorvoller Parcours, der nicht nur intellektuelle, sondern auch körperliche Aktivitäten evoziert. Und mit einer ungeahnten Erfrischung endet.
Derzeit aus drei Aktivisten bestehend und seit gut vier Jahren in Berlin verortet, wurde „Slavs and Tatars“ 2006 als Plattform und Lesezirkel gegründet, um mehr als Kunst zu machen, den Kanon zu erweitern.
So erklärt es Payam, der nur ohne Nachnamen zitiert werden möchte, und seine Herkunft mit Texas angibt, aber zweifelsfrei iranische Wurzeln hat. Er ist das eloquente Mastermind der Gruppe. Neben einem Niederländer gehört noch die polnische Designerin Kasia dazu, was sich unter anderem in der obsessiven Zuwendung zu slawischen Sprachen und kyrillischen Schriftzeichen niederschlägt.
Das geographische Untersuchungsfeld des Kollektivs wird mit „Eurasien“ umrissen, genauer östlich der Berliner und westlich der chinesischen Mauer. Denn hier schlummern nicht nur unzählige Mundarten und ethnische Soziotope, sondern auch noch ungehobene oder von der westlich dominanten Kultur der Aufklärung verdrängte geistesgeschichtliche Schätze. Etwa der von Johann Georg Hamann, Zeitgenosse Immanuel Kants und gleichfalls aus Königsberg gebürtig.
Dieser Philosoph und Wegbereiter des Sturm und Drang aus dem 18. Jahrhundert sei der Bad Boy der Aufklärung, erklärt Payam, denn er stellte sich gegen das Vertrauen in die reine Ratio. Hamann blieb im religiösen Glauben und dem Geheimnishaften verwurzelt, betrachtete Welt und Wirklichkeit eher skeptisch, zumindest nicht mit dem Fortschrittsfuror einer aufklärerischen Vernunftautonomie. Ihm ist nun ein großer, orientalisch bunter, in der Motivik aber kryptischer Wollteppich gewidmet: Er zeigt „Ha‘mann in the hood“, wohl von hinten in einem burka-ähnlichen blauen Gewand. Interpretiere, wer wolle, was auch immer hinein.
Diese Ästhetik zwischen Ethno-Kitsch und gepflegt westlichem Design zieht sich durch alle Objekte im Parcours. Neben einem weiteren Teppich, der mit Zunge und Kehle die beiden Bereiche der menschlichen Sprachartikulation bildgewaltig wiedergibt, sind glänzender Kunststoff und Spiegelglas das Material der Wahl für linguistische Studien.
Da wäre etwa der Name der Stadt Jewpatorija (so die deutsche Transkription) auf der Krim. Er geht auf die griechisch antike Stadtgründung Kerkinitis zurück, wurde danach tatarisch und armenisch adaptiert, im osmanischen Reich zu Közleve, um schließlich seine finale Vokalisation in kyrillischer Schreibweise zu erhalten. Zur russischen Annexion der Krim hat Payam dann auch seine ganz spezielle Theorie parat: Gerade die antike Kultur der Krim sei für Russland, von slawischen Minderwertigkeitskomplexen geplagt, von fundamentaler Bedeutung für die eigene historische Selbstvergewisserung.
Ein weiteres Sprachspiel: Ein gelb-grünes Plastikschild ziert die Transliteration des US-amerikanischen Studentenkalauers „to beer or not to beer“ in arabische Schriftzeichen. Shakespeares Hamlet entlehnt, wird der existentielle Zweifel zu einem für arabische Kulturen ja nicht minder grundlegenden Schisma im Getränkekonsum.
Ganz neue Arbeiten sind die sogenannten „Gitter“. Auch sie sind Ergebnisse aus Transformationsprozessen, beziehen sich auf die bekannten Polizeiabsperrungen. In Edelstahl ausgeführt, in die Waagerechte gedreht oder gedehnt und funktional reduziert, mit pastelligen Sitzkissen und rituellen Buchständern bestückt, fordern sie zur mitunter Gelenkigkeit verlangenden Benutzung auf. Das ursprünglich der Separierung dienende rohe Gestell wird veredelter Ort kollektiver Inbesitznahme, vereint Säkulares mit Sakralem. Passend ist der ganze Oberlichtsaal in gedämpftes, rosa bis bläulich wechselndes Licht getaucht.
Am Ende des Rundgangs wartet dann eine bunte Ayran-Bar. Dieses 2013 von Recep Tayyip Erdoğan zum türkischen Nationalgetränk erhobene Gärprodukt aus Schafs- und Kuhmilch fasst noch einmal die zentrale These von „Slavs and Tatars“ zusammen: die auch metaphorisch verstandene große Kulturleistung des eurasischen Raumes, das Fermentieren als kunstvolle Gradwanderung zwischen Verderben und Konservieren. Wohl bekomms!
Slavs and Tatars, „Sauer Power“: bis 27. Januar,
Kunstverein Hannover
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