: Wo der Kulturkampf tobt
ISTANBUL Aufstrebende Moderne, verhüllte Frauen, hartnäckiges Patriarchat. Ehrgeizig ist man hier, lebensdurstig, neugierig und konservativ. Eine taz-Reise an den Bosporus
■ Die Reise Der Aufenthalt in Istanbul wurde wie unsere anderen Reiseangebote in die Zivilgesellschaft von taz-Autoren vor Ort begleitet und mitorganisiert. Die Reise führt mit dem Bus und zu Fuß durch die Historische Halbinsel samt Topkapi und Hagia Sophia, den Basar und die Moscheen, mit der Fähre über den Bosporus zum Schwarzen Meer, aber auch durch Stadtteile, in die sich sonst kaum ein Tourist verirrt: Im geschäftigen Levent wird das neue Istanbul aufgespürt, das sich gern als Shootingstar im neoliberalen Businesshimmel präsentiert. Unweit davon der Besuch im Armenviertel Nurtepe, wo die Frauenkooperative Ilkadim gern die Besucher aus Almanya empfängt. Tee wird auch im ehemals armenischen Samatya serviert, wo man lernt, ein osmanisches Holzhaus von einem Fertigbau zu unterscheiden. Das Istanbul Modern Museum zeigt die zeitgenössische türkische Kunst von ihrer interessantesten Seite. Täglich erklären GesprächspartnerInnen, wie sie um eine autofreie Innenstadt oder wie in Kuzguncuk um den Erhalt ihres Kiez kämpfen. Abends kehrt man in einer der unzähligen Kneipen in Beyoglu ein, besucht einen Jazzkeller, geht ins Theater oder bummeln, bevor man sich im Belle-Epoque-Hotel Büyük Londra bettet, wo der deutschtürkische Regisseur Fatih Akin die meisten seiner Filme drehte. www.taz.de/4/taz-reisen
VON DILEK ZAPTCIOGLU
Oberhalb des Bosporus in dem feinen Wohngebiet Levent ragt ein Neubau hoch in den Himmel. Sapphire Tower ist nicht der erste Wolkenkratzer, der diese Tage in Istanbul gebaut wird – dennoch ist er etwas Besonderes. Die vierundsechzig Stockwerke hohe Residenz mit seinem erdbebensicheren Stahlbetonskelett und seiner transparenten, himmelblauen Verschalung ist ein stolzes Architekturwunder. „Der höchste Bau nicht nur unseres Landes“, sagt der junge Verkaufsmanager am hell erleuchteten Modell auf dem Glastisch, um das herum sich die kleine Gruppe der taz-LeserInnen auf ihrer Erkundungstour durch Istanbul neugierig geschart hat: „Nach dem Moscow Tower ist dies der höchste Bau Europas.“
In der Sonne glänzen in weiter Ferne auf der anderen Seite des Goldenen Horns die Kuppeln. Die Kirche der heiligen Weisheit im Herzen der historischen Halbinsel, die Hagia Sophia, die Blaue Moschee, der über fünfhundert Jahre alte Topkapi-Palast. Sie sind die unvergänglichen Beweise der einstigen Größe des Osmanischen Reichs, mit dem sich die Türken in diesen Tagen wieder anfreunden. Der Islam und das sechshundertjährige Reich werden zum psychischen Kraftstoff für den Anschluss an die globalisierte Welt. Ein neuer Unternehmertyp ist entstanden, ehrgeizig und fromm. Das sind die Söhne der einstigen Einwanderer aus Anatolien, die zweite Generation der Migranten, die Istanbul jetzt sein neues Gesicht gibt.
Erfolgreiche Migranten
Kein anderer Bau symbolisiert Istanbuls Gegenwart und weist in seine Zukunft wie der Sapphire Tower. Sein Erbauer ist kein Kaiser oder Kardinal, sondern ein Einwanderer aus dem tiefen Ostanatolien. Er hat mit seinen zwei Brüdern als bakkal, als kleiner Lebensmittelhändler, in einem der vielen Wohnviertel, der mahalle, Istanbuls begonnen. Seine nur 25-jährige Erfolgsstory führt aus dem kurdischen Slum zur neuen islamisch-frommen Bourgeoisie der Türkei. Mit der Kiler-Supermarktkette ist die Holding zwischen 2002 und 2007 durchschnittlich 40 Prozent im Jahr gewachsen und macht inzwischen über 600 Millionen Dollar Umsatz. Inzwischen hat der Konzern hunderte von Supermärkten in zwei Dutzend türkischen Städten, ein Bein im boomenden Energiesektor und mehrere teure Bauvorhaben für die Oberschicht im Zentrum und an den Rändern der 12-Millionen-Metropole. Was Sapphire von anderen Wolkenkratzern unterscheidet, ist nicht nur seine Höhe, sondern das außergewöhnliche Wohnprojekt insgesamt. Das Gebäude hat zwei Fassaden. Zwischen der äußeren Glashülle ohne jede Öffnung nach außen und der eigentlichen Fassade mit Fenstern, Balkonen und Terrassen wiederholt sich alle drei Stockwerke ein grüner Garten. Hier wachsen Bäume, es gibt grünen Rasen, Blumenbeete. Das Ganze wird mit einem raffinierten System belüftet. „Wenn Sie an der Außenfassade ein Fenster öffnen wollten, dann würde sie insgesamt zerspringen“, sagt der Verkaufsmanager, „aber ab einer bestimmten Höhe verschwindet die Stadt sowieso unter einer Dunstglocke“. Schickes Wohnen für Betuchte. Und auf 260 Metern Höhe wird es eine atemberaubende Aussichtsterrasse geben – mit Eintritt, selbstverständlich.
Die taz-Karawane zieht weiter. Unsere LeserInnen sind von weit her gekommen, aus Köln, Berlin, Wien und Kreta. Fünfzehn Menschen aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen, die ein offenes Auge und einen neugierigen Verstand haben, wollen keine bloße Sightseeing machen, sondern mit einem auf Bildungsreisen spezialisierten Guide die türkische Zivilgesellschaft kennenlernen. Orhan Esen, unser Reiseleiter, ist Linker, Historiker und leidenschaftlicher Vermittler zwischen den beiden Sprachen und Denkweisen. Wenn die Widersprüche in einem Meer von postmodernen Images zu verschwinden drohen, dann öffnen er dem Reisenden den Blick – mit dem nächsten Termin.
Etwas weiter unterhalb von Sapphire, in einem mehr schlecht als recht erbauten einfachen Haus mit vergilbtem Anstrich, rühren Frauen mit Kindern auf dem Schoß in einem großen Suppentopf. Das Essen muss für alle reichen. Die Fenster sind weit geöffnet, von draußen dringt der Lärm der vorbeifahrenden Autos herein, die immerwährende Geräuschkulisse der Stadt, Polizeisirenen, der Wassermelonenverkäufer, ein Baby schreit. Die Frauen des Viertels haben sich selbst zu einer Kita verholfen und den Laden in eine Art feministisches Zentrum umgebaut.
Die Frauenkooperative Nurtepe Ilkadim („Erster Schritt“) ist gegründet worden, um in Eigenregie auf die Kinder der Frauen aufzupassen, die jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe aus dem Armenviertel in die reicheren Haushalte gehen, um dort auf andere Kinder und Alte aufzupassen, zu putzen oder in Firmen Tee zu servieren. Mit der Zeit ist aus dem Laden ein Frauenzentrum geworden.
Das Patriarchat hält sich in diesen Breitengraden hartnäckig. Die Freiheiten, die auf die Mittel- und Oberschichten begrenzt waren, haben eine neue politische Bedeutung erfahren. Die Verhüllung wird im neuen Diskurs als die einzig richtige Verhaltensweise der Muslimin behandelt. Als Frau wird man sich seiner offenen Haare bewusst: eine merkwürdige, erschreckende Vorstellung. Der Kulturkampf tobt. Taxifahrer, die nachts jede allein einsteigende Kundin als Prostituierte ansehen, die unübersehbare Männerdominanz auf den Straßen mancher Stadtteile, der Anstieg der Gewalt gegen Frauen – die Männergesellschaft schlägt buchstäblich zurück. Doch es gibt Zentren des Widerstands.
Abwesender Staat
Die Frauen der Kooperative haben mit dem Beistand eines feministischen Vereins Zugang zu EU-Geldern bekommen und in den letzten Jahren sechshundert Männer, Frauen und Schwiegermütter über Gewalt aufgeklärt. Der Staat ist hier abwesend. Tausende Menschen arbeiten mitten in Istanbul schwarz irgendwo auf der Baustelle oder im privaten Haushalt und organisieren ihre Kinderbetreuung selbst. Die Kommune nimmt für die zwei kleinen Stockwerke, die sie nutzen dürfen, keine Miete, gibt ihnen aber auch keinen Vertrag.
Die Themen „Frau, Religion, Kopftuch“ stehen – wie könnte es anders sein – im Mittelpunkt der Reise nach Istanbul, aber auch das immense Wachstum der Stadt, ihre sichtbare Modernisierung, die lebhafte Kunst- und Kulturszene, die Gentrifizierung, also die Veredelung der heruntergekommen innenstädtischen Bezirke, die Immobilienspekulation, ja, der Bauboom. Istanbul wächst und kämpft mit sich selbst. Wo sind seine Grenzen, wo sind die Grenzen für die Menschen im Umgang miteinander, mit der Natur? Wie kann die Innenstadt autofrei werden? Wer verhindert die dritte Brücke, die über dem Bosporus gebaut werden soll und die die letzten großen Waldgebiete im Norden kaputt machen wird? Was ist mit den Hunderttausenden von illegalen Einwanderern nicht aus, sondern in der Türkei, von denen ein Großteil in den Altbauten am Goldenen Horn haust? Die Afrikaner, die alljährlich dort ihre Fußballturniere abhalten – Ghana gegen Kongo. Und noch einmal, was ist nun mit dem Kopftuch?
Was tun gegen die Konservativen, die das Land doch auch sichtbar modernisieren – die Straßen sauberer machen, den Verkehr ordnen? Das ehrgeizige anatolische Kapital als Motor einer kapitalistischen Entwicklung, die die Menschen irgendwann von selbst zu Demokraten macht? Der Wille, seinen Platz in der Welt einzunehmen, ist viel stärker spürbar als in mancher europäischer Metropole. Istanbul putzt sich heraus mit neuen Verkehrsnetzen, mit Zügen in die Region, Fußgängerzonen, Cafés, Restaurants und einem Unterseetunnel, der in einigen Jahren beide Seiten des Bosporus miteinander verbinden wird. Ehrgeizig ist man hier, lebensdurstig, neugierig. Jeder Tag scheint wie eine neue Herausforderung: ein Blick in die Schlagzeilen – ja, neue Entwicklungen in der Kurdenfrage, neue Verhaftungen gegen die extremen Nationalisten, neue Läden in der Einkaufsstraße, neue Wachstumsprognosen, neue Arbeitslosenziffern.
Man besuchte Kirchen und Moscheen, laute Kneipen und Vororte, in die sich kein Tourist verirrt. Die taz-Reise ist ein intensives Erlebnis, werden die meisten nach sieben Tagen und Nächten feststellen. „Ich wohne seit zwanzig Jahren in Frankfurt aber ich habe jetzt das Gefühl, dass ich Istanbul besser kenne“, sagt einer der Teilnehmer. Und man hat gelernt: Istanbul ist nicht Großkreuzberg – es ist eine Weltstadt.