: „Die Uniform durfte nicht beschmutzt werden“
Claus Günther war sieben Jahre alt, als sein Vater am 10. November 1938 zum „Sondereinsatz“ abgeholt wurde. Er erinnert sich noch gut an diese Nacht
Am geschichtsträchtigen Tag des 9. November 1939 blieb es bei uns in Hamburg-Harburg ruhig. Erst am 10. November ging das hier richtig los. Abends klingelte es plötzlich bei uns zu Hause und mein Vater wurde von der SA zum Sondereinsatz abgeholt. Er war dort Mitglied.
Ich sollte ins Bett gehen, konnte aber nicht schlafen und durfte noch am Fenster rausgucken. Wir wohnten Eißendorfer Straße 31. Die Synagoge damals in der Eißendorfer Straße 15, heute Hausnummer 1, also nur einen Steinwurf entfernt. Die SA marschierte nicht wie sonst mit Gesang, sondern von unheimlichem Trommelwirbel begleitet.
Einige der Männer hatten Fackeln in der Hand, die sich in den Fenstern widerspiegelten. Es war eine sehr eindrucksvolle Szene. Mein Vater stand an der Spitze und trug die Fahne. Das machte eigentlich immer der körperlich Größte. Der hatte sich aber krank gemeldet. Nun war mein Vater war kein Hüne, nur 1,72 Meter, aber er trug die Fahne. „Oh Mutti, guck mal, Vati trägt die Fahne“, das war ja nun was für mich.
Ich habe noch ein Bild vor Augen: Kurz bevor der SA-Trupp durch die Straße marschierte, war gegenüber von unserem Haus der Widerschein eines Feuers zu sehen. Was ich damals nicht wusste: Dort war ein jüdischer Friedhof, wo Jungs der Hitlerjugend den Behang eines Leichenwagens in Brand steckten.
Der SA-Trupp marschierte zur Synagoge, und diese sollte durch Feuer vernichtet werden. Sie war auch angekokelt, aber da kam jemand und sagte: „Halt! Macht das Feuer aus!“ Nebenan war nämlich eine Tankstelle. Dann wäre die wahrscheinlich mit hochgegangen. Also haben sie nur – in Anführungszeichen – die Synagoge demoliert. Dass heißt, alles was nicht niet- und nagelfest war, wurde aus dem Fenster geworfen. Gebetsbücher, Stühle und Kultgegenstände. Und die Fenster rausgerissen. Der SA-Trupp, der die Synagoge verwüstete, war in Zivil. Die Uniform, das Ehrenkleid, durfte ja nicht beschmutzt werden.
Nach dem Krieg wurden einige Leute vor Gericht gestellt. Einer war ein Arbeitskollege meines Vater im Landratsamt. Ein anderer war ein Friseur. Also, wie man so sagt, ganz normale Leute. Aber durch das ganze Indoktrinieren der Hitler-Ideologie waren die entsprechend geprägt. Zu der Zeit war ich es ja auch. Natürlich betrachtete ich Hitler auch als unseren heißgeliebten Führer und so weiter. Dass war sozusagen normal.
Mein Vater kam an dem Abend nach Hause und ich konnte immer noch nicht schlafen. Ich nehme an, er hat rings um die Synagoge mit abgesperrt. Das hat die SA zusammen mit der Polizei gemacht, damit keine Leute dazwischengehen. Mein Vater erzählte, dass ein Polizist gesagt habe: „Feste, feste drauf!“ Also die Polizei war auch auf Seiten der Nazis. Mein Vater war ein großer Bücherliebhaber. Und ich habe noch in Erinnerung, wie er sagte: „Ich hätte liebend gern ein Buch mitgenommen, aber das darf man ja nicht.“ Es war paradox: Auf der einen Seite das ganze Zerstörungswerk und auf der anderen Seite zu sagen: „Das ist ja fremdes Eigentum, das darf man nicht.“
Am nächsten Tag waren wir in der Stadt in Harburg. Und bei verschiedenen Geschäften, da waren die Scheiben eingeschmissen. Das waren jüdische Geschäfte, was ich bis dahin überhaupt nicht wusste. Die Scheiben von Sally Laser wurden eingeschmissen. Da hatte meine Oma mir zwei Tage vorher eine Mütze gekauft. Und genauso das Schaufenster von Lindor, ein Geschäft aus dem die jüdischen Besitzer schon lange vertrieben waren, aber das hatte sich wohl noch nicht herumgesprochen. Und ich dachte mir: „Oh Gott, meinem Spielkameraden ist ja mal ein Fußball in ein Fenster geflogen. Da war aber was los und das mussten die Eltern bezahlen. Und jetzt verwüsten Erwachsene diese Geschäfte?“ Das war für mich als Jungen überhaupt nicht plausibel. Aber Kindern meiner Generation wurde einfach immer gesagt: „Sei nicht so neugierig. Kinder haben den Mund zu halten. Kinder reden nur, wenn sie gefragt werden. Basta.“ Also habe ich auch nicht gefragt.
Am nächsten Tag in der Schule haben wir drüber gesprochen, dann kam raus, dass man auf dem jüdischen Friedhof Grabsteine umgeworfen hatte. Und da sagte der Lehrer: „Das hätte man nicht tun sollen. Tote soll man ruhen lassen.“ Das habe ich zu Hause meiner Mutter erzählt und da sagte sie: „Um Himmels Willen, wie kann der das sagen? Das kann ihn ins KZ bringen.“ „Mutti, was ist ein KZ?“ „Ein KZ ist ein Arbeitslager.“ Und ich dachte mir: „Der Lehrer ist Anfang 60, so jung ist der auch nicht mehr. Der soll ins Arbeitslager?“ Und ich beschloss, niemals irgendwem zu erzählen, dass der Lehrer die Taten der Nazis kritisiert hat.
Seitdem stand dort die Synagoge, an der ich fast jeden Tag vorbei musste, wie ein Schandfleck. Und zum Ende des Krieges hat man sie abgerissen. Heute ist das Grundstück normal bebaut, mit einer Gedenktafel, die an das Geschehene erinnert. In der Familie wurde darüber nicht gesprochen. Protokoll: Philipp Effenberger
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