: Psychodelischer Kubismus
Weißes Reh, Auge blutunterlaufen – das „Theater der Dinge“, internationales Festival für zeitgenössisches Figuren- und Objekttheater in der Schaubude
Von Katja Kollmann
Tschaikowskis „Valse sentimentale“ bringt Melancholie in den Keller der Schaubude. Ein graziles weißes Reh mit Brautschleier dreht sich einsam auf dem Schallplattenteller. Das dynamische Schattenbild schafft die Illusion eines Paars, das sich tanzend im Kreise dreht. Esther Nicklas’ Installation „Hochzeitstanz – Only for you“ wird im Rahmen von „Theater der Dinge“ gezeigt. Während des internationalen Festivals gibt es im Foyer der Schaubude eine Liaison zwischen mumifizierten Schmetterlingen und winzigkleinen, über hundertjährigen Puppenköpfen aus Bisquitporzellan. Florian Feisel sitzt oben an der Wand inmitten von 2.756 Puppenteilen und hält seine Lecture Performance „Schmetterdinge“. Feisel denkt poetisch über die unberührten jahrzehntelang vergrabenen Porzellanfragmente nach, schaut zur anderen Wand, die voll von toten Schmetterlingen in Glaskästen ist, und ruft zur Vereinigung beider auf. Die Zuschauer geben den Insekten Köpfchen mit feingeschwungenen Lippen, zarten Augen und erschaffen so den „Schmetterding“.
Im 25. Jahr der Schaubude gibt sich das „Theater der Dinge“ das Motto „Von der verlorenen Zeit“ und „Vies de papier – Papierleben“ von La Bande Passante aus Frankreich geht den Spuren nach, die ein auf dem Flohmarkt gefundenes Fotoalbum streut. Es ist eine Annäherung an Christa-Maria Charitius, geboren 1933 in Frankfurt (Oder) und verstorben 2011 in Brüssel. Schwarzweißfotos sind hier der Kompass einer Reise, die unter anderem nach Regensburg, Berlin und Zinnowitz führt und deren Dokumentation auf der Bühne gezeigt wird.
Mit Empathie nähern sich Benoit Faivre, dessen Großmutter aus Berlin stammt, und Tommy Laszlo, dessen Oma 1956 aus Ungarn nach Frankreich floh, einem Leben an, das parallel zur Machtübernahme der Nazis begann. Die Spurensuche wird oft von einer Situationskomik flankiert, die sehr aufschlussreich ist. So orientieren sich Faivre und Laszlo in Regensburg an einer auf der Rückseite der Fotografie aufgemalten Wegbeschreibung, um das Haus in der Hindenburgstraße zu finden, vor dem Christa als kleines Mädchen Radfahren übte. Niemand kennt die Hindenburgstraße, obwohl das Haus, in dem Christa mit ihren Eltern wohnte, als der Vater bei Messerschmitt beschäftigt war, noch existiert. Regensburg hat sich inzwischen der Hindenburgstraße entledigt. Eine Messerschmittstraße, die an den Flugzeugbauer erinnert, der im Zweiten Weltkrieg große Werkstätten in der Stadt hatte, gibt es aber bis heute. Am Ende ihrer Recherche sitzen Faivre und Laszlo in Brüssel einem alten freundlichen Herrn gegenüber, der Christa-Maria Charitius als alte Dame gekannt hatte. Sie war seit den 1950er Jahren mit einem adeligen Belgier verheiratet, hatte keine Kinder, und zu ihrer Beerdigung kamen fünf Leute.
Ludomir Franczak aus Polen findet Spuren, die Janina Węgrzynowska, eine polnische Gebrauchsgrafikerin und Künstlerin der Nachkriegszeit, hinterlassen hat. Er stößt auf Bilder, die im realsozialistischen Polen einem psychedelischen Kubismus frönen, liest Briefe und Tagebücher, die aber nur den Alltag dokumentieren und bleibt so mit einer Leerstelle zurück. Heute und morgen wird das Pouppe Theater aus dem Iran „Flug Nr. 745“ zeigen. Marjan Poorgholamhossein beschäftigt sich hier mit der Wiederaneignung der eigenen Kindheit. Sie entwickelt dazu kleine bewegliche Tableaux vivants. Esther Niklas entlässt den Besucher nach dem Hochzeitstanz mit einer Fotografie: Das Auge des weißen Rehs ist jetzt blutunterlaufen.
Theater der Dinge bis 15. 11. in der Schaubude, im Podewil und im Weinsalon
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