: Schreiben gegen das Schweigen
Bericht über eine Jugend voller Gewalterfahrungen und Verwahrlosung: „Irgendwo in diesem Dunkel“ sucht Natascha Wodin nach ihrem Vater
Natascha Wodin: „Irgendwo in diesem Dunkel“. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018, 240 Seiten, 20 Euro
Von Katharina Granzin
Natascha Wodin erhielt 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse. „Sie kam aus Mariupol“ heißt das prämierte Buch, in dem die Autorin erzählt, wie sie sich auf die Suche nach Spuren des früheren Lebens ihrer Mutter macht, die als Zwangsarbeiterin aus dem ukrainischen Mariupol nach Nazideutschland geriet und sich zehn Jahre später in einem fränkischen Fluss ertränkte. Da war Natascha, die ältere ihrer beiden Töchter, zehn Jahre alt. Und das Buch war damit zu Ende.
Eine Fortsetzung liefert Natascha Wodin jetzt nach. „Irgendwo in diesem Dunkel“ ist sozusagen ein Forschungsbericht über den Vater – und eine Erzählung über die schreckliche Jugend voller Misshandlungen, Missachtung und Verwahrlosung, die sie ihm zu verdanken hat. Die Autorin hat einen großen Teil dieser Geschichte schon einmal erzählt, wie eine Anmerkung vorn im Buch offenlegt. Viel davon ist eingegangen in den Roman „Einmal lebt ich“, der 1991 erstmals erschien und mittlerweile nur noch antiquarisch erhältlich ist. „Irgendwo in diesem Dunkel“ nun erzählt diese Kerngeschichte ganz offen autobiografisch. Das Buch eröffnet eine zeitliche Panoramaperspektive aus dem Rückblick: Es beginnt mit der Beerdigung des Vaters, als seine Töchter in mittleren Jahren sind, und berichtet von den Besuchen der Tochter beim alten Vater im Pflegeheim sowie von ihren Nachforschungen nach Verwandten in Russland. Das alles, samt der unglaublichen Geschichte ihrer Jugendjahre, erzählt Natascha Wodin in dieser klaren, undramatischen und unlarmoyanten Sprache, die schon in „Sie kam aus Mariupol“ in heftigem Kontrast zu den Erzählinhalten stand.
Die Eltern der Autorin konnten auch nach Kriegsende nie in die Sowjetunion zurück, da ehemalige „Ostarbeiter“ dort als Nazi-Kollaborateure galten und verfolgt wurden. Natascha, noch im Arbeitslager gezeugt, kam Ende 1945 zur Welt, sechs Jahre später ihre Schwester. Nach dem Tod der Mutter gibt der Vater die beiden Mädchen für Jahre in ein katholisches Heim, in dem ein harsches Regime herrscht. Als sie danach wieder bei ihm wohnen, ist Natascha Misshandlungen ausgesetzt. Mit sechzehn flüchtet sie von zu Hause und lebt auf der Straße. Von der deutschen Umwelt hat eine „Russenlusch“ wie sie keine Hilfe zu erwarten. Sie wird vergewaltigt, wird schwanger und nimmt heimlich an sich selbst eine Abtreibung vor.
Es ist auf den ersten Blick schwer nachvollziehbar, dass die Erzählerin sich trotz der Erfahrungen ihrer Jugend später dennoch um den alten Vater kümmert, der in einer ihm fremden Umwelt (in all der Zeit hat er nie Deutsch gelernt) dahinsiecht und stirbt. Doch der Vater ist die einzige Verbindung zu ihrer russisch-ukrainischen Herkunft, über die die Tochter rein gar nichts weiß.
Zufällig findet sie einmal beim Vater im Pflegeheim eine Moskauer Adresse und schreibt sie heimlich ab. Beim nächsten Russlandaufenthalt – die erwachsene Natascha arbeitet als Dolmetscherin – findet sie lebendige Verwandtschaft: Der Vater hatte verschwiegen, dass er losen Kontakt zu seinem in Moskau lebenden Bruder hielt.
Der Titel des Buches deutet es an: Der Vater ist bis zum Schluss ein Rätsel geblieben – trotz aller Spurensuche, trotz allen Erzählens. Und anders als das Mutterbuch „Sie kam aus Mariupol“, das ebenfalls voller Lücken und dunkler Stellen bleibt, aber dennoch eine inhaltlich kohärente Erzählung ergibt, bleibt „Irgendwo in diesem Dunkel“ Fragment. Auch das ist allerdings vielsagend. Der Vater ist schon für das Kind wenig präsent gewesen und scheint sich später geradezu bewusst zu entziehen.
Während die Schwester der Erzählerin, wie Wodin an einer Stelle schreibt, dieses „Schweigen geerbt“ zu haben scheint, geht die Ältere den entgegengesetzten Weg. Als Autorin der eigenen Geschichte und Erzählerin der Familiengeschichte erarbeitet sie sich ein Gefühl von Herkunft und Zugehörigkeit – etwas, das ihr früher immer verwehrt wurde.
Leben und Schicksal der Eltern, vor allem der Mutter, haben es Natascha Wodin womöglich erst zu der skrupulösen, jedem Detail nachforschenden Erzählerin gemacht, die sie ist. Sogar in den Autorennamen der Tochter ist der Freitod der Mutter eingegangen. Eigentlich, so war aus dem Mutterbuch zu erfahren, lautet der Name der Familie „Wdowin“ (von den grausamen fränkischen Schulkameraden zu „Doofin“ verkürzt). „Wodin“ ist aber nicht nur das für die Deutschen phonetisch einfachere Resultat einer Buchstabenumstellung, sondern außerdem die Namensform des Wortes „voda“, „Wasser“. Es ist das Element, in dem die Mutter den Tod gefunden hatte.
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