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Archiv-Artikel

„Die EU kann nicht perfekt sein“

BRÜSSEL Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Rebecca Harms, über europäisches Pathos und das Parlament als Sondermülldeponie

Rebecca Harms

■ ist Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europäischen Parlament. 1977 war sie Mitbegründerin der Bürgerinitiative gegen das Endlager Gorleben, später Fraktionschefin der Grünen in Niedersachsen.

INTERVIEW RUTH REICHSTEIN

taz: Frau Harms, aus Brüssel kommen jetzt in der Krise immer wieder die gleichen Slogans: Die EU darf nicht auseinanderbrechen. Es ist eine Frage von Krieg oder Frieden auf dem Kontinent. – Kommt das überhaupt noch an bei den Bürgern?

Rebecca Harms: Die Europäische Union muss und wird sich immer aus der Geschichte begründen. Jeder Europäer muss erkennen können, was nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht wurde. Die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich ist auch heute nicht banal. Aber wir dürfen nicht stehen bleiben, können nicht nur über Krieg und Frieden reden. Ein anderes Versprechen muss eingelöst werden. Das ist das Versprechen eines besseren Lebens.

Erzählen Sie das einmal einem Jugendlichen in Spanien oder Griechenland, der seit Monaten keine Arbeit findet. Der würde garantiert nicht unterschreiben, dass die EU seine Lebensverhältnisse verbessert.

Nein. Mit der einseitigen Politik, die in den sogenannten Krisenländern ausschließlich auf Sparmaßnahmen setzt, bekommt die EU ein Profil, das für Härte und Ungerechtigkeit steht. Europäische Politik darf nicht tolerieren, dass das Europäische Sozialmodell in etlichen Mitgliedstaaten eine Fiktion geblieben ist und in anderen immer schwächer wird. Die Not der Bürger lässt den Glanz des Pathos sonst schnell stumpf werden.

Genau dieses Pathos, das gerade hier in Brüssel gerne verbreitet wird, geht vielen Bürgern auf die Nerven!

Ich glaube, angesichts der Schwierigkeit von vielen, sich von Herzen zur Europäischen Union und zu Brüssel zu bekennen, flüchten sich viele Politiker ins Pathos. Das ist scheinbar einfacher, kann aber allein nicht wirken. Es gelingt uns nicht zu erklären, wie viel Fortschritt wir schon geschafft haben. Gemeinsam.

Woran liegt das?

Diejenigen, die in Brüssel arbeiten, sind zu weit weg von den Leuten, die sie wählen. Das, was im normalen Abgeordnetenalltag eine Voraussetzung ist für die Erklärung von Politik, dass man nämlich Zeit gemeinsam im Wahlkreis oder im Bundesland verbringt, dass man sehr engen Kontakt zur lokalen Presse hat, das gibt es fast gar nicht oder nur sehr reduziert für uns Europäer. Und es sind nun einmal die Europaabgeordneten, die die Fragen der Bürger beantworten müssen. Ich bin sicher, dass sich auch unser Parlament ändern muss.

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse bezeichnete das Europäische Parlament kürzlich als „Sondermülldeponie“ für aussortierte nationale Politiker.

Mit Atommüll kenne ich mich sicher besser aus als er. Und ich weiß nicht, was er überhaupt vom Parlamentarismus hält. Ich würde ihn gern mal ein paar Tage hier in Brüssel sehen. Und dann mit ihm noch einmal über Sondermüll reden.

Sie sagen, das Parlament müsste sich verändern.

Ich denke oft, dass wir falsche Prioritäten setzen. Wir verlieren uns in technischen Details von Richtlinien und Verordnungen, die woanders von Beamten in Ministerien bearbeitet werden. Das kostet viel Arbeit. Die Zeit fehlt dann für die Kommunikation mit den Wählern. Das Verständnis für unsere Arbeit leidet auch darunter, dass EU-Politik immer noch als Außenpolitik gefühlt wird. Wir müssen es schaffen, dass die Bürger dem, was in Brüssel passiert, die gleiche Bedeutung beimessen wie dem, was aus Berlin kommt.

Aber genau das schaffen Sie bisher nicht. Liegt es auch daran, dass es keine europäische Medienpolitik gibt?

Es gibt die verzweifelten Versuche, europäische Medien durch eine Finanzierung aus europäischen Töpfen zu schaffen. Dazu gehört zum Beispiel der Internetfernsehkanal des Europäischen Parlaments, Europarl-TV. Aber solche Propagandakanäle können nicht erfolgreich funktionieren. Eine gemeinsame Öffentlichkeit lässt sich nicht verordnen.

Gibt es heute überhaupt eine gemeinsame Vorstellung in den 27 Mitgliedstaaten, was die EU ist oder was sie sein sollte?

Im EU-Parlament gibt es ein klares Bekenntnis einer großen Mehrheit zur Stärkung der Union. Da gibt es eine fraktionsübergreifende Gemeinsamkeit, aus der nur sehr wenige ausscheren. Bei der Europäischen Grünen Partei versuchen wir gerade einen EU-weiten Konsens zu erarbeiten, wie wir die Wirtschafts- und Sozialunion gemeinsam vorantreiben können. Aber mit der Krise hat die Zögerlichkeit zugenommen, Souveränität nach Brüssel abzugeben. Dabei verschärft sich hierdurch die Krise.

Robert Menasse schreibt auch, die Regierungen huldigten wieder dem Nationalen.

Die politischen Eliten versagen in den Debatten. Sie suggerieren, dass der Nationalstaat allein im Zweifelsfall besser funktioniert – mit leichtfertigen Aussagen wie: Schaffen wir den Euro einfach ab. Oder: Schmeißen wir die Griechen doch raus. Solche Sätze sagen auch: Allein wären wir besser dran. Wer das sagt, hat nicht recht. Und wer das sagt, stellt eben doch die ganze Europäische Union infrage.

Trotzdem ist die EU doch alles andere als perfekt?

Die EU kann nicht perfekt sein. Wir waren doch auch immer stolz auf die Einheit in Vielfalt. In so einem heterogenen Gebilde aus 27 Staaten muss man zum Unperfekten stehen. Die EU ist nicht fertig. Europa ist ein großartiger Prozess. Es gibt über 40 Sprachen in der EU. Am häufigsten gesprochen wird die Sprache der Übersetzung, und zwar nicht nur zwischen den Sprachen, sondern auch zwischen den verschiedenen Kulturen der Mitgliedstaaten.

Ist die EU überhaupt noch erhaltenswert?

Erhaltens- und liebenswert. Wer sich auf der Welt umschaut, stellt fest: Die Konsenssuche, die Reibung, die Auseinandersetzung mit den Partnern haben mehr Gutes und Friedliches hervorgebracht als irgendein anderer Weg. Ein homogenes Europa, in dem wir aus der Zentrale Brüssel durchregieren, sehe ich nicht als Alternative.