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schlaglochReform und Heuchelei

Die #metoo-Debatte hat Indien erreicht. Wie grundsätzlich dort über das Thema gesprochen wird, könnte durchaus ein Vorbild für uns sein

Nora Bossong, Jahrgang 1982, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Zu ihren wichtigsten Romanen zählen „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ (2012) und „36,9[o] “ (2015).

Die Schlagloch-Vorschau:

6. 11. Ilija Trojanow

13. 11. Charlotte Wiedemann

20. 11. Jagoda Marinić

27. 11. Hilal Sezgin

4. 12. Mathias Greffrath

11. 12. Georg Seeßlen

Eine Reform gelingt nur dann, wenn die Veränderungen von oben wie auch von unten getragen werden, sagt Ramachandra Guha. Er steht auf der Hauptbühne des Bangalore-Literaturfestivals und hält eine Rede über Ungleichheit in der indischen Gesellschaft. Eigentlich sollte er hier seine neue Ghandi-Monografie vorstellen soll, aber Guha, Historiker und einer der prominenten öffentlichen Intellektuellen Indiens, reagiert lieber auf das, was im Land derzeit hohe Wellen schlägt.

Ein Jahr nach der Affäre Weinstein hat die #metoo-Bewegung Indien erreicht. Die seit einigen Wochen im unbequemen Rampenlicht stehende Prominenz reicht vom Comedian Utsav Chakra­borty, der nicht nur der sexuellen Belästigung beschuldigt wird, sondern mit einer taktlosen Entschuldigung weiteren Zorn auf sich zog, über den der Vergewaltigung angeklagten Bischof Franco Mulakkal bis hin zu dem Journalisten und Politiker Mobashar Jawed Akbar, der sein Ministeramt aufgrund der #metoo-Vorwürfe niederlegte.

Sitzt man in den Zuschauerreihen des Festivals, kommt es einem leicht so vor, als wäre das Eintreten für Frauenrechte das Selbstverständlichste und #metoo eine Bewegung, die seit Langem etabliert ist in dieser Stadt, in diesem Land. Bitte noch eine Frage von einer Frau, fordert Shashi Tharoor, der indische Beinahe-Generalsekretär der Vereinten Nationen und zudem prominenter Bestsellerautor und Politiker. Bei einem der bestbesuchten Panels sprechen vier Frauen, die maßgeblich die #metoo-Enthüllungen vorangetrieben haben.

Natürlich, man kann diese Bühnen abschätzig „Bubble“ nennen und unterstellen, sie zeigten nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Gesellschaft. Hier werde nur den bereits Konvertierten gepredigt, man bleibe unter sich und bestätige sich allenfalls selbst. Mag sein. Aber die Erleichterung, Wut und Energie, mit der Frauen davon erzählen, wie gut es ist, endlich sprechen zu können und auch gehört zu werden – das zu ignorieren bedarf schon eines unbedingten Willens.

Dass #metoo nur in den privilegierten, urbanen Zirkeln funktioniere, ist eine Kritik, die auch in Deutschland zu hören war und die nicht gänzlich unberechtigt ist. Nicht immer, bislang leider sogar recht selten schaffte es die Bewegung, von einem privilegierten Diskurs überzuspringen auf all jene Frauen, die viel tiefer in hierarchisch-patriarchalen Strukturen feststecken und die zugleich weniger eloquent ihre Stimme zu erheben vermögen. Um es in der Logik einer zynischen Kritik zu formulieren: Jene, die auf der hierarchischen Leiter schon ein paar Stufen hoch geklettert sind, beschweren sich über eine Hand auf ihrem Knie, gegen die sie sich trotz aller Selbstermächtigung nicht erwehren können, während ein paar Straßen weiter Frauen gewalttätige Übergriffe und Entwürdigungen erleben, die weiterhin Alltag sind und totgeschwiegen werden.

Man kann diese Kritik als Abwehrmechanismus eines um Selbsterhalt kämpfenden Systems abtun und davon ausgehen, dass Veränderungen in einem Teil der Gesellschaft langfristig auch auf die übrigen Teile abstrahlen. Doch die Kluft bleibt problematisch und es ist hilfreich, sie wahrzunehmen. Dies gilt umso mehr, je weiter die Schere zwischen Wohlstand und Armut in einer Gesellschaft auseinanderklafft. In Indien schäumt die #metoo-Debatte in den sozialen Medien und in der nationalen Presse über, während sie in den lokalen, nicht englischsprachigen Medien bisher eher unverstanden bleibt oder gar nicht erst vorkommt. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land gerade in Bezug auf Frauenrechte sind eklatant, und das traditionelle, streng hierarchische Kastensystem strukturiert weiterhin in erheblichem Maß die Gesellschaft.

Vermutlich ist all das gar nicht so neu. Die Vorstellung, dass eine Revolution oder auch nur Reform gerade dort beginnt, wo die Menschen die Unterdrückung am deutlichsten spüren, hat sich historisch immer wieder als falsch erwiesen – vielmehr tritt sie leichter eben dort ein, wo sich die Restriktionen bereits etwas gelockert haben. Deshalb auch ängstigen sich autoritäre Regime so davor, die Zügel etwas lockerer zu lassen. Weil aber nichts von allein passiert und eingespielte Mechanismen auch zitternd weiterhin gut bestehen können, ist es wichtig, auch die aktuelle Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit an die Frage nach den grundlegenden hierarchischen Strukturen einer Gesellschaft zu binden. Das ist notwendig, damit der emanzipatorische Wandlungsprozess nicht in unterschiedliche Partikularkämpfe zersplittert.

Dass #metoo nur in den privilegierten, urbanen Zirkeln funktioniere, ist eine Kritik, die auch in Deutschland zu hören war

Sanhya Menon, einer der Frauen auf dem #metoo-Festival-Panel, ist dieses Problem sehr bewusst. Es gehe jetzt darum, juristische und strukturelle Veränderung zu schaffen und auch in die ländlichen Gegenden hineinzuwirken. Dort kann es für Frauen nach wie vor erniedrigend sein, nach einer Vergewaltigung zur Polizei zu gehen. Statt die Tat aufzunehmen, werden Frauen oft einfach wieder weggeschickt. Ein höherer Frauenanteil bei der Polizei etwa würde eine konkrete Veränderung bedeuten. Eine Person, eine Stimme, das garantiere Indien seit seiner Unabhängigkeit, erklärt Guha. Eine Person, ein Wert, davon allerdings sei man durchaus noch weit entfernt.

Wer dachte, dass #metoo ein westliches Phänomen bleibt, sollte sich etwas abschauen von dem, wie in diesen Tagen in Bangalore darüber diskutiert wird. Dass eine Reform nur dann gelingt, wenn die Veränderungen von oben wie auch von unten getragen werden, ist ein Satz, der trotz seiner Kürze präzise an das erinnert, was auch im Westen derzeit allzu oft vergessen wird. Wie viele der männlichen Redner auf dem Festival aus tatsächlicher Überzeugung in die Forderungen von #metoo einstimmen oder doch nur, um selbst weniger angreifbar zu sein, sei dahingestellt. Am Ende gilt wohl, was eine der Panelteilnehmerinnen sagte: Wenn das Gute aus der Heuchelei entsteht, dann ist es willkommen.

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