: Rütli-Schwur als Reichsbürger-Rap
In Münster und Osnabrück, den rivalisierenden Städten des Westfälischen Friedens, kommt Schillers „Wilhelm Tell“ auf die Bühne. Die Theaterfehde gewinnt Osnabrück mit dem Mut zur passend reaktionären Ästhetik abgezirkelten Deklamationstheaters
Von Jens Fischer
Da sind sie sich einig, die beiden Tells: Sich instrumentalisieren lassen oder Teil einer Bewegung, gar ihr Anführer sein, das verabscheuen sie. Am Ende des Schiller’schen Passionsdramas stehen die Eidgenossen-Darsteller am Theater Osnabrück als bedrohliche Phalanx in Chorus Line an der Rampe, rot angestrahlter Nebel wallt, Jubel bricht los nach der erfolgreichen Revolte gegen die habsburgische Besatzungsmacht.
Da nun „Freiheit unter unseresgleichen“ zu erleben sei, wollen alle den Tyrannenmörder als Idol verehren, hängen unterwürfig an seinen Lippen, als wäre ihnen ein Prophet geboren. Tell beginnt zu schweigen, schlendert irritiert bis missmutig von der Bühne. Hat er doch seinen Job als Präzisionsschütze gemacht und jetzt Feierabend.
Ebenso ignoriert der Kollege am nur 50 Kilometer entfernten Theater Münster die Siegesfeier. „Es lebe Tell“, der „Erretter“, brüllt das Volk. Der Superstar aber hat nichts mit diesem „einzig Volk von Brüdern“ zu tun, legt die Armbrust beiseite, während sein Abbild per Videoeinblendung eine solche auf ihn anlegt und den unpolitischen Protagonisten durch eine Polit-Ikone gleichen Namens ersetzen.
Per Texteinblendung erinnert die Münsteraner Produktion daran, dass die Jakobiner der Französischen Revolution den Tell-Mythos ebenso nutzten wie Nord- und Südamerikaner, die sich von Großbritannien und Spanien lossagten. Konterrevolutionär Napoleon identifizierte sich mit ihm. Jahrelang musste er als Hitlers Liebling herhalten und wurde in der DDR als antikapitalistischer Stratege zurechtgebogen. Bis heute irrlichtert die Heldensage durch Bürgerrechtsbewegungen, die gegen autoritäre Unrechtsstaaten oder für regionale Autonomie entflammen.
Auch Rechtsextremisten beanspruchen Tell für sich. Anfang September fand in Bischofswerda eine Freilichtbühnen-Inszenierung des Dramas für ein völkisch-nationales Publikum statt. All das war nicht Tells, nicht Schillers Wille, behaupten die Theater der beiden selbst ernannten Friedensstädte, in denen vor 370 Jahren das Ende eines 30-jährigen Plünderns, Verwüstens, Vertreibens, Mordens verhandelt wurde.
Stadt- und Theaterfehde
Zur diesjährigen Feier des Westfälischen Friedens sind die beiden Schiller-Inszenierungen ein prima Beitrag. Sie sind aber auch ein Beitrag für den Wettstreit zwischen Osnabrück und Münster: Beide Städte haben einen gemeinsamen Flughafen, sind etwa gleich alt, sich sonst aber in dezenter Rivalität zugetan. Osnabrücker hadern mit dem Gefühl, nur die kleine Schwester Münsters zu sein. Und historisch trägt zum Kleinmut bei, dass die Unterschrift des legendären Friedensvertrags am 24. Oktober 1648 in Münster geleistet – und Osnabrück nur der Ort war, an dem ein Reiter einen Tag später die frohe Botschaft verkündete.
Zur Feier des Tages hüpfen seit 1953 dort alljährlich die Viertklässler der Stadt auf selbst gebastelten Steckenpferden zum Rathaus, wo sie zur Erinnerung eine süße Brezel erhalten. Nächste Woche ist es wieder so weit. Klingt putzig, hat aber mehr Tradition und bringt mehr Menschen auf die Straße als das Konkurrenzangebot: Seit 1998 würdigt Münster den Anlass mit einem Laien-Open-Air-Historienspiel.
Auch in der Theaterfehde hat Osnabrück die Nase vorn – dank eines Wagnisses. Unter Dröhnen treten die Mimen in einem Betonrahmen an, um betonierten Herrschaftsverhältnissen zu trotzen. Gespielt wird aber nicht: Apart arrangierte Standbilder sind zu sehen, die Darsteller treten auf, nehmen Haltung an, stellen dazu die eine oder andere Geste aus und sprechen. Und sprechen. Und sprechen. Bewegungslos. Blutleer donnernd.
Weil Schillers Verse nie konterkariert, sondern bitterernst und metrisch überbetont präsentiert werden, feiert das Pathos der Worte raunende Urständ, während die Rede geht von Blut und tausendjährigem Besitz des Bodens, Treue, Heimat, Volksgemeinschaft. Für die Freiheit eines solchen mythisch-fundamentalistischen Rollbacks wird hier gekämpft, was aktuell leider vertraut erscheint, weil es aus der rechten Ecke ähnlich dröhnt.
Deutlich wird das dank der radikalen Aktualisierungsverweigerung von Regisseur Robert Teufel. Mit der reaktionären Theaterästhetik abgezirkelten Deklamationstheaters erzählt er von der reaktionären Revolution der Wir-sind-das-Volk-Genossen. Als Retrolution für ein Retopia kritisieren das die Osnabrücker. Ein sehr überzeugender Ansatz – auch wenn die leere Erhabenheit der Performance schwer erträglich ist. Immerhin dauert die Aufführung nur 90 Minuten.
Die große Schwesterstadt dehnt die Spielzeit gegen drei Stunden. Frank Behnke inszeniert vitales Schauspiel, aber in ähnlich nüchterner Atmosphäre. Statt Betonrahmen und -boden ist eine Betonwand auf der Bühne installiert, darauf ein Alpenpanorama. Davor im Plastikschnee der gleiche kritische Impetus wie in Osnabrück. War dort Andreas Möckels Tell mit bebender Stimme untergegangen im heiligen Aufsagegesang, schmeißt sich Kollege Jonas Riemer als einzelgängerischer Naturbursche in Schlurfi-Manier ins Zeug.
Ebenso überdeutlich wird auch seine Abneigung gegen die Welt der Eidgenossen verständlich, die sich zu Beginn mit einer folkloristischen Show lächerlich machen müssen und beim Rütli-Schwur noch einen drauflegen: Mit Sonnenbrillen, Lederhosen und Bärten kommen sie brustfrei als schwule Sektion des Alpenvereins daher und legen einen Reichsbürger-Rap auf die Planken.
Gereinigt werden vom Fremden müsse der Schweizer Grund, dort „sind die starken Wurzeln deiner Kraft“. Was in Osnabrück wie in Stein gemeißelt klang, hat in Münster ironische Verve. Um das Recht des Volkes zu beglaubigen, Willkürherrscher abzuschaffen, werden Passagen aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verlesen.
Rechtspopulistische Dumpfbacken
Da darf auch ein Verweis auf die AfD nicht fehlen. Als das Böse in Person gibt Christoph Rinke den Burgvogt Gessler sadistisch smart. Hält er eine Rede, wird die Grenze zum Hitlern überschritten und mit Alexander Gaulands Worten gedroht: „Wir werden sie jagen und uns unser Land zurückholen.“ So sind nun der demagogische Besatzer wie die dumpfbackigen Besetzten als Rechtspopulisten diffamiert. Zum Ablachen und Abschuss freigegeben.
Derweil studiert Tell mit dem Publikum „Durch diese hohle Gasse muss er kommen“ ein – und erschießt Gessler aus dem Hinterhalt. Tells Schwiegervater warnt brechtisch: „Der Schoß ist fruchtbar noch.“ Der Schütze aber quält sich mit der Rechtfertigung der rachedurstigen Selbstjustiz, deren staatspolitische Verantwortung nun die seine ist. Der Täter wird Opfer, denn weitere Gewalt in seinem Namen folgt. „Kommt und reißt nieder“, schreit das Volk, marodiert über die Bühne und nährt Schillers Sehnsucht nach einer unblutigen Revolution. Klassisches Regietheater, vom Publikum gefeiert.
Aber den Friedenspreis gewinnt Osnabrück für Mut und Stringenz, die Interpretation allein durch die ungemütliche Ästhetik vermittelt zu haben.
Nächste Aufführungen in Münster: Fr, 26. 10., 19.30 Uhr; So, 28. 10., 15 Uhr, Fr, 9. 11., 19.30 Uhr; in Osnabrück: Mi, 31. 10., Sa, 24. 11., 19.30 Uhr
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