: Konstant auf hohem Niveau: die Armutsquote
In Hamburg leben immer noch ein Viertel aller Kinder unter der Armutsgrenze. Der Chef des Sozialverbands fordert die Stadt auf, mehr Geld dagegen in die Hand zu nehmen
Klaus Wicher, Leiter des Sozialverbands Hamburg
Von Kaija Kutter
Wir wollen nicht in Bausch und Bogen verdammen, was der Senat tut“, sagt der Vorsitzende des Hamburger Landesverbands des Sozialverbands Deutschland, Klaus Wicher. Doch die rot-grüne Regierung erreiche ihr Ziel nicht: die Armutsquote zu senken.
Den „Lebenslagenbericht“ über die Situation von Familien in Hamburg hat die Sozialbehörde unlängst selbst herausgegeben – doch er fand wenig Beachtung. Der Sozialverband Deutschland hat das 100-Seiten-Konvolut nun genau unter die Lupe genommen. Am Freitag präsentierten Sozialverbandsleiter Wicher und Sozialwissenschaftler Timm Kunstreich die Analyse und stellten angesichts der bevorstehenden Haushaltsberatungen politische Forderungen auf.
Die Armutsquote verharrt seit zehn Jahren auf hohem Niveau. Insgesamt 181.510 Familienhaushalte mit 300.535 Kindern unter 18 Jahren wohnten 2016 in der Stadt. Fast ein Viertel leben unter der Armutsgrenze, sprich: Sie müssen von weniger als 60 Prozent des Median-Einkommens der Stadtbürger leben. Alleinerziehende sind immer noch besonders betroffen. Hier leben gar 44 Prozent unter dieser Grenze. Haben Single-Eltern zwei oder mehr Kinder, verfügen sie über nur halb so viel Geld wie Paar-Eltern mit einem Kind.
Auch Familien mit Migrationshintergrund mit mehreren Kindern verfügen über fast nur die Hälfte des Einkommens von anderen Familien mit mehreren Kindern. Das ist beachtlich, denn jedes zweite Kind in Hamburg hat Migrationshintergrund. All diese Fakten sind seit 2007 konstant.
Der Senat schreibt im „Lebenslagenbericht“, er wolle Chancengerechtigkeit herstellen, Ursachen von Armut bekämpfen und ihre Folgen abmildern. „Wir müssen uns fragen, warum dies bislang trotz des hohen Einsatzes von Mitteln nicht gelingt“, sagt Wicher. Eine Ursache seien die Hartz-IV-Gesetze, die wie ein „Armutsverstärker“ wirkten, und Familien den Ausstieg aus der Armut verwehrten.
Deutlich mehr Geld als noch vor zehn Jahren fließt mittlerweile in Kitas. Es ist selbstverständlich geworden, sein Kind in eine Krippe zu geben, die Nutzerquote stieg von 24 Prozent im Jahr 2008 auf 46 Prozent im Jahr 2016. Kritisch merkt der Sozialverband jedoch an, dass die Quote in wohlhabenden Stadtteilen höher ist als in sozial benachteiligten. Der Kita-Ausbau sei ein „unbestreitbarer sozialpolitischer Erfolg“, sagen Kunstreich und Wicher. Doch vor allem Mütter mit niedrigem Bildungsabschluss sind zur Hälfte nicht erwerbstätig, während jene mit hohem Bildungsabschluss zu 80 Prozent einem bezahlten Job nachgehen. Selten arbeiten auch Mütter mit mehreren Kindern.
Für die Entwicklung von Kindern kommt es jedoch nicht nur aufs Geld an. Auch Wohnen und das Lebensumfeld, Lernen und Erfahrungen, Regeneration und Erholung sowie Teilhabe sind wichtig. „Es gibt Kinder, die waren noch nie bei Hagenbeck“, sagt Wicher. Auch dächten manche Schüler bei einem Ausflug auf das südliche Elbufer, dies sei schon Ausland.
Wicher fordert, mehr Kinder müssten eine Schüler-Monatskarte besitzen, um in der Stadt mobil sein zu können. Auch seien viele Wohnungen zu klein. „Eine Familien mit vier Personen braucht für jedes Kind ein eigenes Zimmer, damit es sich zurückziehen kann.“ Familien, vor allem ärmere, geben einen zu hohen Anteil von 30 bis 40 Prozent ihres Einkommens für die Miete aus. Hamburg baut zwar zurzeit jährlich 10.000 Wohnungen, davon 3.333 Sozialwohnungen, doch um den Bedarf zu decken, seien jährlich mindestens 5.000 Sozialwohnungen nötig, sagt Wicher. Dafür müsse bei den Haushaltsberatungen Geld bewilligt werden. Der Wohnraum und das Wohnumfeld müssten so geschaffen werden, dass es Erholzonen für die Kinder, ausreichend Bewegungsräume und Begegnungsstätten gebe.
Zudem forderte der Sozialverband, der mit rund 80.000 Mitgliedern der größte dieser Art in Hamburg ist, dass Menschen über wesentliche Aspekte ihres Lebens selbst entscheiden können. Hilfen für Kinder und Familien dürften „nicht diskriminierend“ sein. Und die zuletzt angesichts des Ausbaus der Ganztagsschule arg dezimierte offene Kinder- und Jugendarbeit müsste mehr Gewicht erhalten.
Auch an die Bundespolitik richtet Wicher Forderungen, etwa nach einer Erhöhung des Hartz-IV-Satzes auf 550 Euro und einer eigenen Kindergrundsicherung. Die SPD, die in Umfragen immer stärker absinkt, „muss zeigen, dass das Soziale ihre Kernkompetenz ist“.
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