: Die Lebenden und die Toten
Warum reisen wir so gerne in die Vergangenheit? Valentin Groebner erkundet den Tourismus
Valentin Groebner: „Retroland: Geschichts-tourismus und die Suche nach dem Authentischen“. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2018, 224 Seiten, 20 Euro
Von Ambros Waibel
Als „kluge, federleichte Essays“ bewirbt der S. Fischer Verlag Valentin Groebners „Retroland: Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen“. Diese Zuschreibungen treffen für manche der teils schon in Zeitschriften erschienenen Ausführungen des Historikers durchaus zu; und man wird es dem Verlag kaum verübeln können, dass er die langweiligen und prätentiösen Passagen nicht extra anpreist – schon allein deswegen, weil es ja die Aufgabe des Lektorats gewesen wäre, die Redundanzen des in Luzern mittelalterliche und Renaissance-Geschichte lehrenden Professors in den Griff zu bekommen.
Andererseits ist es schon so, dass Groebner sich, auf seine eben flanierende Weise, den Aporien der Tourismusindustrie stellt: etwa derjenigen, dass die sich selbst zu kultivierten „Reisenden“ erhebenden an ihren Urlaubsorten sehr distanziert auf „die Veränderungen, die sie selbst ausgelöst haben“, reagieren, dabei aber als Auslöser dieser Veränderungen eben gerade nicht sich selbst, sondern die Anderen, die bösen „Touristen“, haftbar machen.
Wie der Tourismus zur weltweit drittgrößten Dienstleistungsindustrie hat aufsteigen können, sei letztlich von der historischen Forschung nicht erklärt, sagt Groebner. Er bläst damit in das gleiche Horn wie der italienische Soziologe Marco d’Eramo, der in seinem ebenfalls heuer erschienenen, systematischeren Buch, „Die Welt im Selfie: Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters“, feststellt, dass trotz üppigen Literaturausstoßes man die originellen Thesen zum Thema Tourismus an den Fingern einer Hand abzählen könne.
Arbeit und Freizeit
Wenn wir also schon nicht genau wissen, warum wir reisen, dann können wir vielleicht wenigstens vermuten, warum über das Reisen derzeit so viel geschrieben wird? D’Eramo sieht den klassischen Tourismus seit 1945 gebunden an das klassische Arbeitsverhältnis: Ohne festgelegte Arbeitszeit keine geregelte Freizeit; ohne festes Einkommen und bezahlten Urlaub keine Pauschalreise; ohne ausreichende Altersversorgung keine Aufläufe von Rentnern in beigefarbenen Funktionswesten.
Das aktuelle Beschreiben des Tourismus wäre also ein langsames Abschreiben und Abschiednehmen: Denn die gern als „Geschenke“ denunzierten „Wohltaten“ des Sozialstaates – die in Wirklichkeit hart erkämpft wurden – werden in unserem neuen Jahrhundert ja peu à peu kassiert.
Valentin Groebner, eher uninteressiert an den materiellen Grundlagen, betont das „noch“, das die Werbeabteilung der Tourismusindustrie so liebt: Das Paradies wird dort versprochen und ersehnt, wo die Menschen noch authentisch sind, die Uhren noch langsamer ticken, wo, besonders absurd „die Vergangenheit noch ein Erlebnis ist“. Urlaub sei „das Versprechen auf wiedergegebene Zeit“; also beim Geschichtstourismus speziell die Reise in eine Zeit, zu der es noch gar keinen Tourismus gab, weil die Voraussetzungen fehlten, die eben heute – noch! – den Tourismus ermöglichen.
Vorstellbar wären in einigen Jahren aber halt auch gruslige Ausflüge in ein historisches Berliner Bürgeramt, in dem Beamte ganz langsam Formulare von A nach B schoben, auf liebevoll mit Strohblumen dekorierten Originalschreibtischen, die von Sinnsprüchen à la „Ich lasse mich nicht hetzen! Ich bin auf der Arbeit und nicht auf der Flucht!“ geschmückt sind.
Natürlich würde eine solche Darstellung den realen, historischen Gegebenheiten nicht gerecht. Das muss sie auch gar nicht – sie muss nur fürs Heute funktionieren, erklärt Groebner. Besonders unangenehm deutlich wird das an Orten des von Menschen gemachten Grauens: Wer behaupte, schreibt Groebner, im Namen der Toten zu sprechen und das Leiden malträtierter Menschen in der Vergangenheit zu empfinden und zu verkörpern, setze sich selbst an die Stelle derjenigen, in deren Namen er oder sie auftritt.
Das Selfie vor dem einst tödlich elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun von Auschwitz – das ich selbst spanische Touristen in diesem Sommer habe machen sehen – ist nur ein besonders ernüchterndes Beispiel dafür, dass es bei den Besuchen bei den Toten und beim Vergangenen, beim Geschichtstourismus eben, um eine einzige Kategorie geht: um das gegenwärtige, sich noch und noch einmal und immer wieder seiner Lebendigkeit und Erlebnisfähigkeit versichern müssende Ich.
„Das kann, muss man aber nicht mögen“, schließt der Autor.
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