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Der Denker der Beschleunigung

Paul Virilio ist tot. Seine „Dromologie“ befasste sich mit der technologischen Beschleunigung und ihren militärischen Wurzeln

Von Tilman Baumgärtel

Einmal habe ich Paul Virilio live erlebt. Der deutsche Regisseur Harun Farocki hatte im Pariser Museum Jeu de Paume eine Retrospektive seiner Filme, die den Beginn seiner Karriere in der bildenden Kunst einleiten sollte. Zu einem Panel mit dem Filmemacher hatte Kuratorin Catherine David auch Virilio eingeladen, der sich ja in der Tat für ähnliche Themen wie Farocki interessierte: Krieg, Medien, die Macht der Information.

Obwohl niemand sicher sagen konnte, wie viele Farocki-Filme Paul Virilio tatsächlich gesehen hatte, hielt dieser vollkommen frei ein flammendes und druckreifes Plädoyer für das Werk des deutschen Regisseurs und verortete es noch schnell im Kontext der europäischen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Es war ein denkwürdiger Auftritt, Regisseur und Publikums vernahmen es mit Staunen.

Das war dann doch ein etwas anderes Niveau, als ich es von meinen deutschen Uniprofessoren kannte. Hier war ein französischer Homme de Lettres am Werke, an dessen Esprit und Allgemeinbildung sich viele der deutschen Akademiker ein Beispiel hätten nehmen können, die zu dieser Zeit begannen, seine zentralen Thesen nachzubeten. Nun ist er tot.

Wie erst jetzt bekannt wurde, ist der französische Philosoph am 10. September im Alter von 86 Jahren in Paris gestorben. Der ausgebildete Ingenieur Virilio beschäftigte sich in seiner „Dromologie“ oder Geschwindigkeitslehre – einem Fachgebiet, das er selbst definiert hatte – mit der zunehmenden Beschleunigung von Technologie und Informationsverbreitung und deren militärischen Wurzeln. Neben Foucault, Deleuze und Baudrillard galt er als einer wichtigsten Vertreter des französischen Poststrukturalismus. In Deutschland hat der Berliner Merve Verlag, der zahlreiche seiner kurzen Schriften als billige Taschenbücher im Hosentaschenformat publizierte, viel zu seiner Popularität beigetragen.

Virilio organisierte einst eine Reihe von Ausstellungen, unter anderem 1975 „Bunker archéologie“ im Centre Pompidou über den deutschen Atlantikwall an der französischen Atlantikküste und 1991 „La Vitesse“ bei der Fondation Cartier. Als Architekt entwarf er zwei brutalistische Betonbauten. Er war seit 1969 Professor und seit 1973 Studiendirektor an der École Spéciale d’Architecture in Paris und wurde 1990 Studiendirektor des interdisziplinären Collège International de Philosophie. 1997 wurde er emeritiert, veröffentlichte aber weiterhin regelmäßig – insgesamt drei Dutzend Bücher – und unterrichtete unter anderem an der European Graduate School in der Schweiz.

Wenn er die veränderte Bedeutung thematisierte, die der physische Raum durch Fortschritte bei der elektro-optischen Übertragung von Daten in Echtzeit erfahren hatte, dann fand das nie im luftleeren Raum statt. Sein Forschungsinteresse hatte ihn mit einem feinen Instrumentarium für Epochenumbrüche und technische Umwälzungen ausgestattet, und so kommentierte er immer wieder scharfsinnig tagespolitische Themen wie die Live-Übertragungen des Golfkriegs 1991 auf CNN, den Terroranschlag vom 11. September oder die Finanzkrise im Jahr 2008.

Dabei kam ihm zugute, dass er ein seltenes Talent für griffige Formeln und eingängige Slogans besaß: „Die Sehmaschine“, „Rasender Stillstand“, „Die Kunst des Schreckens“, „Die Informationsbombe“, „Die Universität des Desasters“ sind die Titel einiger seiner Bücher. In ihnen variiert er mit immer neuen Belegen aus Presse und wissenschaftlicher Literatur seine Grundthese, dass die Beschleunigung von Medienkonsum und Informationsverbreitung einen „Verlust der Beziehung zur äußeren Umwelt“ zur Folge habe. Für ihn war die Menschheit am Ende des 20. Jahrhunderts in ein paradoxes Endstadium der Geschichte eingetreten, in dem die Echtzeit der Informationsübertragung zu Ohnmacht und Passivität des Publikums geführt hätten.

Wer den Fortschritt analysieren will, muss auch die Unfälle verstehen, die er ausgelöst hat

Seine Thesen mögen von der Zeit überholt erscheinen, wenn heute das Onlinespiel „Pokémon Go“ oder die Dating-App Tinder zu recht umstandsloser Beziehungsaufnahme zur Umwelt einladen und in Chemnitz und Köthen dank der Verbreitung von Informationen in den sozialen Medien in kürzester Zeit Hundertschaften von Neonazis und Hooligans in der Innenstadt mobilisiert werden können. Tatsächlich ist dem Philosophen, der ohne Internetanschluss in La Rochelle lebte, in den letzten Jahren immer wieder Kulturpessimismus und Fortschrittsfeindlichkeit vorgeworfen worden.

Doch wer den Fortschritt analysieren will, muss auch die Unfälle verstehen, die er ausgelöst hat, fand Virilio, und hatte auch dafür einen griffigen Slogan: „Die Erfindung des Autos war auch die Erfindung des Autounfalls.“ So wie James Graham Ballard in der Literatur und David Cronenberg im Film vertiefte sich Virilio in seinen Schriften mit bösem Vergnügen in die Dysfunktionen der Moderne, wo er immer wieder auf den Krieg als den Vater allen technischen Fortschritts stieß.

Diesen kritischen Affekt sollte man nicht vergessen, je alternativloser der technische Fortschritt heute auftritt.

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