: Kein Entrinnen aus der Gewaltspirale
In der „Garage“ des Thalia-Theaters macht Franziska Autzen aus Édouard Louis' autobiografischen Roman „Im Herzen der Gewalt“ ein eindringliches Kammerspiel
Von Katrin Ullmann
Es gibt diesen einen Moment an diesem Abend im Hamburger Thalia Gauß, da steht er plötzlich ganz aufrecht. Stark ist er dann, wütend, bedrohlich und unberechenbar. Da ist er nicht mehr das Opfer, da ist aus seiner Angst Hass geworden und aus Hass Gewalt. „Sogar Kinder, Schwache oder Behinderte“, sagt der bebende Édouard, „schütteln hätte ich sie mögen und ihnen ins Gesicht spucken und sie zerkratzen bis aufs Blut, bis sie kein Gesicht mehr hätten, bis es um mich herum keine Gesichter mehr gäbe.“
Mit jedem Satz, jedem Wort wird seine Stimme lauter und eindringlicher. Ein muskulöser Mann ist er, der bis eben noch selbst eine unfassbare Angst hatte vorm Leben. Nun macht er selbst Angst. Sein Kopf zuckt zur Seite, wie der eines Raubvogels, der gleich auf seine Beute hinabstürzen wird. Seine Bewegungen sind fahrig, sein Blick ist starr nach vorn gerichtet. Er atmet laut, er atmet schwer, er atmet Hass. Und man spürt, dass er gefangen ist, in einer Spirale aus Angst, Gewalt und Verachtung. Es ist eine hochenergetische Szene, eine von vielen in der Inszenierung von Franziska Autzen.
„Im Herzen der Gewalt“, chronologisch und sachlich an Édouard Louis’Debütroman „Das Ende von Eddy“ anschließend, ist ein autobiografischer Roman, in dem der französische Schriftsteller über Vergewaltigung und einem Mordversuch schreibt. In „Das Ende von Eddy“ erzählte Louis 2014 die Geschichte einer Befreiung aus einer unerträglichen Kindheit – inspiriert von seiner eigenen.
Erstaufgeführt hat den Text Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne. Autzen bringt ihn jetzt in Hamburg mit nur zwei Darsteller*innen auf die Bühne. Die Besetzung ist ein großes Glück: Sebastian Jakob Doppelbauer ist Gast am Haus und spielt Édouard, Toini Ruhnke – seit dieser Spielzeit festes Ensemblemitglied am Thalia Theater – dessen Schwester Clara.
Im Zentrum des Abends steht das Trauma, die Gewalt. Édouard ist sie widerfahren, als er, der homosexuelle Pariser Soziologiestudent, am Weihnachtsabend einen Fremden mit zu sich nach Hause nimmt. Reda heißt dieser und ist Kabyle. Die Nacht beginnt romantisch, leidenschaftlich und endet in einem heftigen Streit, in Misstrauen, Hass und Strangulation.
Schutz vor diesem traumatischen Erlebnis und der immer wiederkehrenden Erinnerung sucht Édouard ausgerechnet in seiner Heimat, in der französischen Provinz, aus der er einst in die Metropole floh.
Dort erzählt er seiner Schwester das Erlebte, zum einen, weil er ihr vertraut, zum anderen, weil sie neugierig fragt. Ruhnke gelingt in der Rolle der lebensklugen Frau vom Land stets die fragile, schwierige Balance zwischen Erlebnishunger und Empathie. Den Hass auf alles Fremde teilt sie bald mit ihrem Bruder. Aber auch ihr Hass auf Homosexuelle blitzt auf: auf alles, was „anders“ ist, wie sie sich lieber ausdrückt.
Bühnenbildnerin Sina Brüggemann hat ein paar schmutzig-weiße Tücher aufgehängt, um den rohen Garagenraum zum Bett der Liebesnacht, zu einer Wäscheleine auf dem Land oder zu einem Zimmer in einer psychiatrischen Klink werden zu lassen. Im Hintergrund spannt ein vernarbtes, vernähtes Tuch die Wand ab und erzählt selbstredend von Verletzungen. Ab und zu flackern Projektionen darüber, wabernde Bilder von undefinierbaren (Körper-)Flüssigkeiten. In diesem Raum lässt Autzen alles in dieser Geschichte Unsagbare geschehen. Sie lässt die Schauspieler berichten, verzweifeln, lachen und Klavier spielen; lässt sie kämpfen, einander quälen und trösten.
Mit nur wenigen Mitteln und vielen Zwischentönen baut Autzen fast spielerische Szenen, leicht und in ihrer Leichtigkeit so trügerisch. Unvorhersehbar wechseln die Stimmungen: Mal sind die Geschwister neckend nah, mal zärtlich liebend, mal streitend distanziert, mal gewalttätig brutal (Clara übernimmt streckenweise die Rolle des Liebhabers und Täters Reda). Ruhe kehrt nie ein an diesem intensiven Abend, Ruhe wird schließlich auch bei Édouard nicht einkehren.
Die Spirale aus Angst, Gewalt und Verachtung – für ihn gibt es daraus kein Entrinnen. Und durch das ergreifend verbindliche Spiel von Sebastian Jakob Doppelbauer, durch seine unausweichliche, faszinierende sympathisierende Direktheit ist dieser Édouard einem ganz nah, bis unter die Haut nah. Mit all seiner Verletztheit, all seinen Wunden und mit all seinem gewaltigen Hass.
Hamburg, Thalia Gauß. Nächste Aufführungen: Do, 4. 10., Mi,10. 10., Sa, 20. 10., So,11. 11., 20 Uhr
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