Sechs neue Gutachter im Envio-Prozess

GIFTSKANDAL Der Prozess wegen der Vergiftung hunderter Arbeiter mit Dioxinen und PCB stand bereits vor dem Aus. Nun ist die Staatsanwaltschaft aufgewacht und versucht zu retten, was zu retten ist

DORTMUND taz | Staatsanwalt Marc Sotelsek könnte einem fast leidtun. Hohn und Spott ergießen sich im Dortmunder Envio-Prozess über den promovierten Juristen. Eine „komplette Rolle rückwärts“ habe Sotelsek bei der juristischen Aufarbeitung eines der größten deutschen Umweltskandale hingelegt, kritisiert der Vertreter der Nebenklage, der Kölner Anwalt Reinhard Birkenstock.

Obwohl in Dortmund bereits seit Mai verhandelt wird, hat die Staatsanwaltschaft erst am Dienstag die Anhörung von gleich sechs neuen Gutachtern beantragt, die helfen sollen zu klären: Ist die Verseuchung hunderter Arbeiter mit hochgradig gesundheitsschädigenden Polychlorierten Biphenylen (PCB) und Dioxinen durch die Dortmunder Firma Envio überhaupt Körperverletzung?

In der Firma des Hauptangeklagten Dirk Neupert herrschten frühkapitalistische Arbeitsbedingungen: Ohne Schutzkleidung zerlegten Leiharbeiter hochgradig kontaminierte Transformatoren und Kondensatoren. Schon heute beobachtet Thomas Kraus, Leiter des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin der TH Aachen, „Störungen des zentralen Nervensystems“, „Beeinträchtigungen des Hormonhaushalts“ und akneähnliche Hautveränderungen bei den von ihm betreuten Arbeitern.

Trotzdem hielt sich die Dortmunder Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage auffallend zurück: Der 47-Jährige steht nur wegen einfacher Körperverletzung und Umweltdelikten wie dem „unerlaubten Umgang mit gefährlichen Stoffen“ vor Gericht.

Die Strafverfolger präsentierte mit dem Arbeitsschützer Albert Rettenmeier einen Gutachter, der erklärte, ohne großangelegte Reihenuntersuchung könne er keine validen Aussagen machen. Das würde Jahre dauern – nur sei er, Rettenmeier, dazu nicht in der Lage, weil er kurz vor der Pensionierung stehe.

Der Vorsitzende Richter Thomas Kelm drohte deshalb schon Mitte September mit der Aussetzung des Verfahrens. Die juristische Aufarbeitung des Skandals hätte sich um Jahre verzögert.

Mit der Bestellung der neuen Gutachter versucht die Dortmunder Staatsanwaltschaft jetzt zu retten, was zu retten ist. Arbeitsmediziner wie Kraus oder Toxikologen wie der Kieler Hermann Kruse sollen darlegen, wie gefährlich Dioxine und PCB sind. ANDREAS WYPUTTA

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